Essen. Mehrfach hatte er auf sein Opfer eingestochen. Doch Rache bestreitet der 22 Jahre alte Gelsenkirchener. Jetzt steht er vor dem Landgericht Essen.
Es sah aus wie eine blutige Vergeltungsaktion im kriminellen Milieu. Doch von Rache will der Gelsenkirchener Özbey T. am Donnerstag vor dem Essener Schwurgericht nichts hören. Er sei von dem anderen Mann provoziert worden und habe deshalb im Freibad des Sportparadieses mit dem Messer zugestochen. Doch die Anklage sieht Rache als Motiv, hat ihn wegen versuchten Totschlags angeklagt.
Laut Staatsanwaltschaft waren der Angeklagte und das Opfer früher eng befreundet. Das sei in offene Feindschaft umgeschlagen, nachdem sie und ein weiterer Mann wegen Raubes vor Gericht standen. Für den jetzt Angeklagten habe das Verfahren mit einem Freispruch geendet, für die beiden anderen mit einer Verurteilung.
Angeklagter zunächst selbst Opfer
Dieses Ergebnis habe zu Streit geführt, dem zunächst Özbey T., der jetzt Angeklagte, zum Opfer fiel. Denn am 1. Dezember 2018 habe eine Gruppe um das heutige Opfer den Angeklagten Özbey T. am Südausgang des Gelsenkirchener Hauptbahnhofes angegriffen. Dabei habe dieser Schnittverletzungen erlitten, heißt es in der Anklage gegen ihn.
In den nächsten Monaten sei er verärgert gewesen, weil es gegen die damaligen Täter keine Anklage gegeben habe. Staatsanwältin Anne Groß: "Er entschloss sich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen."
Stiche trafen Gesicht und Oberkörper
Am 26. Juni vergangenen Jahres sei Özbey T. im Freibad des Sportparadieses, wo sein Kontrahent mit anderen Fußball spielte, direkt auf diesen zugegangen. Er soll den 23-Jährigen mit "Hurensohn" beleidigt und mehrfach zugestochen haben. Zehn Stiche hätten Gesicht, Oberkörper und Bauch getroffen. "Stirb, stirb" habe er dabei in türkischer Sprache gerufen. Andere Besucher hätten ihn von weiteren Stichen abgehalten. Er sei geflüchtet.
Das Opfer habe im Krankenhaus mit einer Notoperation gerettet werden können. Es habe akute Lebensgefahr bestanden. Özbey T. setzte sich erfolgreich in sein Geburtsland Türkei ab. Erst am 12. November sei er in Holland festgenommen und danach nach Deutschland ausgeliefert worden.
Arterie im Gesicht durchtrennt
In seiner von Verteidiger Heinz-Walter Lindemann vorgelesenen Erklärung widerspricht der Angeklagte der Version der Staatsanwaltschaft. Er erzählt viel über die Attacke, der zunächst er am Hauptbahnhof Gelsenkirchen zum Opfer gefallen war. Tatsächlich hatte es wohl nicht nur "Schnittverletzungen" gegeben. Ein Stich hatte eine Arterie im Gesicht durchtrennt, ein anderer einen Teil der Kopfschwarte abgelöst. Rechtsmediziner Philipp Markwerth bestätigt, dass damals ebenfalls Lebensgefahr bestanden habe.
Er verstehe nicht, sagt Özbey T., weshalb die vier Brüder B., die ihn damals so zugerichtet hätten, nicht zur Verantwortung gezogen wurden. "Ist das gerecht?", fragt er. Dennoch will er nicht von Rache getrieben worden sein. Ein Messer habe er sich nur aus Angst vor der Familie B. zugelegt. Ansonsten habe er sich fern gehalten von diesen Brüdern.
Angeklagter spricht von Provokation
Im Sportparadies habe er ausspannen wollen. Er habe Kokain genommen. Der 23-Jährige sei auch da gewesen, habe ihn mit Blicken provoziert. Und dann? "Irgendwann rastete ich völlig aus", sagt er. Ja, er habe zugestochen. Aber irgendwann habe er aufgehört, wollte auch nie töten. "Es war nicht richtig, was ich getan habe", erklärt er, "ich bin froh, dass er überlebt hat." Und: "Ich war nicht Herr meiner Sinne."
Richter Martin Hahnemann hinterfragt die Unzufriedenheit des Angeklagten mit den angeblich schleppenden Ermittlungen im eigenen Fall. Dabei räumt der Angeklagte ein, dass er trotz seiner Position als Opfer Angaben bei der Polizei verweigert hatte. Erst nach der Tat vom Juni hatte der Vater des Angeklagten Unterlagen aus der Klinik und Fotos eingereicht. Hahnemann: "Wer Aufklärung will, muss auch früh mithelfen."
Opfer hat jetzt selbst eine Anklage
Gehört wird auch das Opfer im Freibad. Der 23-Jährige sagt, er sei nie eng mit Özbey T. befreundet gewesen: "Das war mein jüngerer Bruder." Er sei auch nie mit dem Angeklagten wegen Raubes vor Gericht gewesen: "Das war auch mein Bruder." Außerdem habe er nicht drei, sondern nur zwei Brüder. Im Freibad habe er den Angeklagten nicht provoziert, sondern sei unvermittelt angegriffen worden. An der Schlägerei am Hauptbahnhof sei er beteiligt gewesen, räumt er ein. Dazu sage er jetzt aber nichts, weil er mittlerweile selbst eine Anklage habe.
An insgesamt vier weiteren Tagen will das Schwurgericht die Attacke im Freibad aufklären. Vermutlich wird es dabei dennoch auch um die Tat am Hauptbahnhof gehen.