Bochum. Claudio Facoetti kam im Koma nach Bochum. Die Ärzte heilten nicht nur seine Covid-19-Erkrankung. Mit ihrer Hilfe gewann er seine Tochter zurück.
Als der Italiener Claudio Facoetti in Bochum erwachte, fand er sich in einer Traumwelt wieder. Weiße Gestalten ohne Gesicht bewegten sich um ihn, sein Körper atmete ohne sein Zutun, dann hörte Signore Facoetti die Stimme seiner Tochter. Seiner geliebten Tochter Stefania, die er seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen und gesprochen hatte. Wie seine drei Enkel aufwuchsen, hatte Claudio Facoetti nur heimlich auf Facebook verfolgt. Und nun das: Ein fremdes Land, ein Krankenzimmer für ihn allein, das Surren der Beatmungsmaschine, die Nachricht seiner Tochter.
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Die Corona-Pandemie verursacht zigtausendfaches Leid, sie raubt Leben, Gesundheit, Angehörige, wirtschaftliche Existenzen, Freiheiten. Sie schafft als Nebeneffekte Zusammenhalt, Kunstformen, neue Perspektiven, und sie hat die Familie des Patienten Claudio Facoetti aus Bergamo wieder zusammengebracht. Mit der Hilfe einer Bochumer Ärztin.
Der Sportlehrer brach einfach zusammen
Als die Luftwaffe Claudio Facoetti am 28. März einflog und ins Bochumer Universitätsklinikum St.-Josef-Hospital brachte, lag er bereits seit zehn Tagen im künstlichen Koma, inturbiert mit einem Beatmungsschlauch. Der ehemalige Sportlehrer, 65 Jahre alt, hatte keine Vorerkrankungen, war das letzte Mal mit 14 im Krankenhaus – wegen seines Blinddarms. Dann, Mitte März, kam das Fieber, kam die Appetitlosigkeit, die Müdigkeit. Als die Nachbarn ihn nach fünf Tagen vermissten und anklingelten, öffnete Facoetti noch die Tür und brach zusammen. Die Feldlazarette in Bergamo, dem Epizentrum der italienischen Corona-Tragödie, hatte er zuvor von außen gesehen; bewusst kann er sich nicht mehr an diese Station erinnern.
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Seine Tochter Stefania jedoch „hat den Tod gesehen“, sagt sie. „Die Wagen, die in der Nachbarschaft und auch bei den Verwandten vorfuhren.“ Die Polizei hatte sie angerufen und gefragt, was mit ihrem Vater geschehen solle, ob er in Deutschland behandelt werden sollte. Zwölf Jahre zuvor hatte sie mit ihm gebrochen. Hatte ihn vor die Wahl gestellt: Ich und die Familie – oder die andere Frau, die Affäre. „Ich habe damals nicht nachgedacht“, sagt der Vater heute. „Natürlich wählt man die Tochter.“
Aber er verließ die Familie. Und die verzieh ihm nicht, bis das Virus ihn und sie alle an die Schwelle führte. Stefania hatte sich nicht verabschiedet, hatte Angst um ihn. All der Tod um sie herum – und der Vater überlebte. „Das habe ich als Zeichen gesehen, unsere Sturheit zu überwinden.“
Ärztin hielt drei Wochen den Kontakt zur Tochter
Vater und Tochter sehen sich am Montagnachmittag das erste Mal wieder auf einem Tablet-Schirm. Die Oberärztin Ines Siglienti übersetzt für die Presse. Sie stammt aus Mailand, lebt seit 18 Jahren in Deutschland und ist als Neurologin eigentlich gar nicht für Claudio Facoetti zuständig. Als Landsmännin und Mensch aber schon. Sie hatte schon den Krankentransport mit den italienischen Behörden geregelt, dann hielt sie drei Wochen lang den Kontakt zur Tochter, ganz sachlich zunächst. Erst nach zwei Wochen wollte sie etwas zu eventuellen Vorerkrankungen wissen, da brach es aus der Tochter heraus: „Aber ich kenne meinen Vater ja gar nicht mehr!“
Drei Sprachnachrichten der Tochter hat Ines Siglienti dem Patienten vorgespielt, konnte nicht weghören, weil sie ihm das Handy ans Ohr halten musste. Hat ihm Bilder der Enkel gezeigt, ein gemaltes Bild des Nachbarkindes ausgedruckt. Im Grunde haben sie alle feuchte Augen bekommen im St-Josef-Hospital. Der Pressesprecher Jürgen Frech besorgte eine große Eistorte von einem namensverwandten Gelatiere: „Per Claudio da Claudio“ stand darauf. Druckte das Wappen des Fußballclubs „Atalanta Bergamo“ aus zur Dekoration. Dabei ist der Patient doch Juventus-Fan!
Und nun das: Salve - Ciao - Wie geht’s? Mit all den Leuten im Zimmer ist das erste Gespräch sicher nicht leicht. „Ich will meinen Vater einfach nur umarmen“, sagt Stefania. „Zeit haben, Eis essen, viel sprechen. Die Enkel freuen sich auf ihren Opa.“ Claudio Facoetti liegt in seinem Bett, kann wieder atmen - was sein Landsmann gerade lernt. Er ist auf gutem Wege. Ein niederländischer Patient konnte das St. Josef bereits verlassen. Facoetti gilt als geheilt, soll Ende der Woche nach Hause kommen, könnte sich nun aufsetzen für die Tochter, aber dafür arbeitet es zu sehr in ihm, fast unmerklich. Auf was er sich freut? Die Enkel. Die Familie, sagt er. „Die kleinen Dinge des Lebens ...“