Bochum. Der Tod ist stets präsent im Alltag von Medizinern, der eigene Anspruch groß. Ein Team der Bochumer Augusta-Klinik redet über belastende Fälle.

Da war diese junge Assistenzärztin in einem ihrer ersten Dienste in der Notaufnahme. Der Rettungswagen brachte einen Bewusstlosen. Die Ärztin diagnostizierte eine Hirnblutung, leitete lebensrettende Maßnahmen ein, alarmierte die Angehörigen. Doch diese erklärten: Wir wollen das nicht, das ist anders verfügt. Die Ärztin schaltete die Maschinen ab – und für sich selbst um: von Leben retten auf Sterben begleiten, von jetzt auf sofort. Würdevoll sollte der alte Mann gehen dürfen, auch für seine trauernde Familie wollte sie sich Zeit nehmen. Dann kam der nächste Patient, mit einem schweren Herzinfarkt...

„Die schlechten Gefühle bleiben hängen“

Anna Zdebik, Onkologin in der Bochumer Augusta-Klinik, hat jene Nacht nicht selbst erlebt. Sie erfuhr davon in der „Intervisionsrunde“ ihrer Abteilung. Eine Kollegin schilderte das Erlebte – weil sie es Wochen danach nicht vergessen hatte. Und Zdebik konnte ihre Wut, ihre Traurigkeit gut nachempfinden. „Im Dienst ist nie Zeit oder Raum, sich über eine solche Situation auszutauschen. So bleiben die schlechten Gefühle hängen.“

Auch interessant

Türmen sie sich auf, machen sie womöglich sogar krank: Dass vier von fünf jungen Onkologen Burnout-Symptome zeigen, weiß Curd-David Badrakhan, Oberarzt in der Bochumer Onkologie. Aber er will verhindern, dass es in seiner Abteilung passiert. Hier, wo der „Weiße Elefant“, der Tod, über den niemand reden will, stets präsent sei. Wo Krebskranke behandelt werden, oft in der Endphase ihres Lebens. Badrakhan regte daher, gleich als er vor gut einem Jahr nach Bochum kam, als Präventionsmaßnahme eine kollegiale Selbsthilfe-Gruppe auf freiwilliger Basis an: die „Intervisionsrunde“.

Badrakhan ist nicht nur Hämatologe, internistischer Onkologe und Palliativmediziner, sondern auch Psychotherapeut. Als solcher moderiert er die monatlichen Runden. Sie beginnen stets (nach Feierabend, ohne Kittel) mit der Vorstellung eines Falls, der „nachwirkt“. Der Betroffene berichtet, was ihm zu schaffen macht – und hört dann zu, was den Kollegen dazu einfällt. Über frei assoziierte erste Eindrücke komme man „rasch zum Kern der Sache“. Der Abend endet regelmäßig beim Bier in einem Bochumer Lokal, „gern im Burgerado oder in der Karawane“, lacht Badrakhan. Angelehnt ist das Ganze an die sogenannten „Balint-Gruppen“ in der Psychoanalyse, deren Wirksamkeit nachgewiesen wurde, die in körperlich orientierten Kliniken jedoch selten zu finden sind.

Schon das Reden hilft

„Manchmal hilft schon, dass man es einfach einmal erzählt hat“, erklärt Anastasia Tavoulari. 31 Jahre ist sie alt, noch in ihrer Ausbildung zur Fachärztin in der Onkologie. Als „junge Ärztin auf der Intensivstation“ litt sie häufig unter Kopf- und Nackenschmerzen, monatelang auch an einem Augenflimmern – Symptome, die sie erst im Nachhinein als Vorboten eines Burnouts akzeptierte. „Ich arbeitete und arbeitete, häufte Überstunde um Überstunde an und hatte doch immer das Gefühl, nicht effektiv genug zu sein.“ Die kollegiale Beratung empfindet sie als „ungeheuer entlastend“. Sie sei dadurch „als Ärztin und als Person besser geworden“, sagt Tavoulari.

Gerade besonders leistungsbereite Ärzte hätten zu kämpfen, sagt Prof. Dirk Behringer, Chefarzt der Klinik für Hämatologie. Sie litten am eigenen Anspruch. Die Intervisionsgruppe hält er für ein wichtiges „Instrument, um bessere Medizin zu machen“. Und sein Oberarzt ihn im Gegenzug für „einen außerordentlichen Mann“: Früheren Chefs hätte er mit seiner Idee „nicht kommen dürfen“. Vielleicht liegt’s daran, dass Behringer nicht vergessen hat, wie er sich fühlte, als ihm der erste Patient starb.

Schwäche zeigen vor Vorgesetzten

„Im Praktikum in den USA war das. Alle fünf Minuten bin ich an sein Bett. Und dann wusste ich nicht, was ich da sollte.“ Gern hätte er damals mit einem Kollegen über seine Gefühle gesprochen. Doch hätte er sich das getraut, ganz am Anfang seiner Karriere? Vor Vorgesetzten Schwäche zu zeigen? „Diese Scheu ist rasch überwunden“, sagt Anna Zdebik. „Der Druck ist so groß, der überwiegt alles. Und nichts im Studium bereitet einen darauf vor.“ Behringer nimmt an der Runde trotzdem nicht teil – um es seiner Mannschaft leichter zu machen, sich zu öffnen.

Und die tat es, sofort. „Anfangs war wirklich Druck auf dem Kessel“, gesteht Badrakhan. Inzwischen verliefen die Treffen „weniger alarmiert“. Sie schweißten das Team trotzdem zusammen. „Ich finde, die Kollegen sind entspannter geworden.“ Teilnehmer, die später auf andere Stationen versetzt wurden, kommen übrigens noch immer gern. Und selbst die Kollegen aus der Chirurgie sollen schon nachgefragt haben: wie genau das so funktioniere, diese Intervision.