Ruhrgebiet. Isolation ist wie „emotionales Verhungern“. Was Angehörige Alter oder Sterbender trotz Besuchsbeschränkungen in Heimen, und Kliniken tun können.

Das Corona-Virus trifft die Alten und Kranken am schlimmsten. Selbst die, die sich nicht anstecken. Denn auch sie müssen derzeit Abstand halten von ihren Liebsten, den Kindern, den Enkeln. „Verlassen zu werden ist wie emotionales Verhungern“, sagt Prof. Margareta Halek, Inhaberin des Lehrstuhls für Pflegewissenschaft an der Uni Witten/Herdecke, „und Isolation immer dramatisch.“


Jede Schwester, jeder Arzt fühle mit, leide, wenn einem Angehörigen im Krankenhaus an der Tür zum Patientenzimmer gesagt werden muss: „Sie dürfen da nicht rein.“ Und doch muss es sein in diesen Tagen, auch im Bochumer Augusta-Krankenhaus, auch auf Dr. Curd-David Badrakhans Station, der für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin, gilt derzeit „Besuchsverbot“. „Aber es ist schwer auszuhalten für alle“, sagt der Oberarzt. Dass manche verhinderte Besucher ihrem Unverständnis laut Luft machten, kann er „gut nachvollziehen“.

Besuchsverbot: Ausnahmen für Härtefälle

Denn soziale Kontakte, Besuche von Freunden und Familie sind für Kranke schon in „normalen“ Zeiten sehr wichtig. „Die OP-Wunde wird dadurch nicht schneller heilen“, so der Internist und Psychotherapeut Badrakhan. „Aber durch Besuche und Kontakte fühlen sich Patienten angebundener im Alltag. Es verbessert ihre Lebensqualität, motiviert sie, auf die Beine zu kommen.“


Im Augusta wie in anderen Revier-Kliniken machen sie daher auch nach Absprache mit dem behandelndem Arzt „Ausnahmen für Härtefälle“, für sterbende oder schwerkranke Patienten etwa. „Selbstverständlich“, sagt Badrakhan, „darf ein Mensch, dem nur noch sehr wenig Lebenszeit bleibt, einen Besucher empfangen.

Auch keine Normalität auf den Palliativstationen

Neben dem Besuch der Liebsten sind es die kleine Wünsche und Wohlfühlmomente, die man todkranken Palliativpatienten ermöglichen möchte. „Aber auch auf Palliativstationen wird man keine Pseudonormalität aufrechterhalten können“, glaubt Bernd Oliver Maier, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Man werde weniger individuell auf Todkranke eingehen können, vielleicht nur noch die akutmedizinische Behandlung, etwa von Luftnot, leisten können.


Aber, betont auch Maier, werde man natürlich versuchen, „es immer zu ermöglichen, Abschied zu nehmen.“ Nur müsse man auch das Szenario mitdenken, dass Patienten in Deutschland „unbegleitet bei einer plötzlichen Verschlechterung behandelt werden.“ Was ist etwa, wenn die Angehörigen des Todkranken gar nicht kommen können, weil selbst unter Quarantäne stehen, weil sie das Virus erwischt hat? Wenn ein Patient vielleicht doch allein sterben muss?

Schuld und Scham bei den Angehörigen

„Das ist kaum zu ertragen“, sagt der Bochumer Badrakhan. Jedenfalls dann nicht, wenn der Betreffende noch bei Bewusstsein sei. „Sterbende möchten ihr Leben so nicht beschließen.“ Bei den Angehörigen dagegen stellten sich rasch Schuld- und Schamgefühle ein. „Sie denken oft, sie hätten den Patienten im Stich gelassen.“ Auch wenn er eine Situation wie die derzeitige „in ihrer Dringlichkeit noch nie erlebt“ hat – Badrakhan hat Erfahrungen mit Grippe- und Durchfallwellen und Angehörigen, die von fern anreisen mussten und es nicht mehr rechtzeitig ans Sterbebett von Vater oder Mutter schafften. „Die leiden oft nach lange darunter.“

Was hilft in dieser Lage? Dem Patienten: womöglich Telefonate, Briefe, Videochats. Den Angehörigen: „Sich retrospektiv in die Lage des verstorbenen Vaters oder der verstorbenen Mutter hinein zu versetzen“, rät Psychotherapeut Curd-David Badrakhan. „Sich fragen, was würde mein Vater jetzt sagen, wenn er mich so leiden sähe.“ Die meisten kämen rasch drauf: Der Vater hätte Verständnis, würde sein Kind trösten. „Die meisten schaffen es so, ihren Frieden zu machen.“ Wenn aber viel unausgesprochen geblieben sei, versuchten es Therapeuten mit „Stellvertreter-Dialogen“. Dabei schlüpfen sie in die Rolle des Toten und fragen: „Was wolltest Du mir noch sagen? Was hast Du von mir noch erwartet? Was fehlt Dir?“

Chance für die Seniorenheime?


Auch für die Bewohner von Senioren- und Pflegeheimen bedeuten Corona-verursachte Besuchsverbote einen Einschnitt. Aber Pflegewissenschaftlerin Margarata Halek sieht in der aktuellen Krise sogar eine Chance für manches Heim: „Vielleicht gelingt es jetzt, diejenigen in die Gemeinschaft zu integrieren, die bislang für sich blieben. Weil sie eben ausreichend Besuch bekamen.“ Pflegende seien für das Thema sensibilisiert, kompetent und kreativ, „denen fällt garantiert was ein“ – für das Beisammensein in kleinen Gruppen. Und: „Sie wissen, dass sie jetzt die ausbleibenden Besuche kompensieren müssen.“ Schlimmer sei die Situation für die Senioren, die allein zu Hause lebten.

Und damit auch für die Schwerstkranken und Angehörigen, die von ambulanten Hospizdiensten betreut werden. In den Hospizen selbst ist unter strengsten Auflagen immer noch vereinzelter Besuch erlaubt. „Dagegen wird die ambulante Hospizarbeit vor allem von ehrenamtliche Frauen getragen, die um die 60 Jahre alt sind und somit selbst zur Risikogruppe gehören - sich also selbst schützen müssen“, sagt Sabine Löhr vom Hospiz- und Palliativverband NRW. „Aber“, sagt Löhr, „man kann ja auch kreativ sein – zum Beispiel Kontakt mit den Angehörigen per Tablet anbieten.“


Auch Pflegewissenschaftlerin Halek glaubt, dass sich jetzt zeigen werde, was iPads und Tablets „draufhaben“. „Die Stunde der Technik ist gekommen.“ Denn regelmäßige Videochats mit der Familie daheim könnten den Heimbewohnern helfen. Genau wie regelmäßige Telefonanrufe – oder Methoden der „alten Schule“ wie Briefe, Blättern in alten Fotoalben. „Dafür müssen sich die Pflegekräfte jetzt noch mehr Zeit nehmen.“ Wichtig sei zudem, so Halek, mit den Heimbewohnern zu reden, ihnen zu erklären, was passiert, warum die Tochter nicht mehr kommen könnte.

Kein Fortschreiten der Demenz durch fehlende Besuche

Obwohl es also Möglichkeiten gebe, dem „Gefühl des Verlassenseins“ entgegen zu wirken, fürchtet die Wissenschaftlerin, dass „persönliche Tragödien“ nicht ausgeschlossen werden könnten. „Es geht hier um wirklich existenzielle Fragen: Ein hochbetagter Ehemann, der sich heute von seiner greisen Ehefrau im Heim verabschieden muss, weiß nicht, ob er sie je wieder sehen wird.


“Viele Angehörige dementer Heimbewohner fürchten zudem, dass ihre Mutter, ihr Vater sie vergessen könnten, wenn sie sie nicht wie gewohnt regelmäßig besuchten. Es gebe keine Studien, die das belegten, sagt Prof. Halek. „Da wird vielleicht ein Funke Erinnerung wach, wenn die Tochter auftaucht. Aber ich wage zu bezweifeln, dass tägliche Besuche ein Fortschreiten der Demenz aufhalten können.“ Ob die Mutter nach zwei, drei Wochen die Tochter „vergessen“ habe, hänge eher vom Stadium der Erkrankung ab. „Und so lange dauert im Übrigen ein Urlaub ja auch.“

Müssen Angehörige am Ende im Heim mithelfen?

Entscheidend in Haleks Augen ist der Zeitfaktor: Wie lange werden die Krise und damit die Besuchsverbote andauern? Ein paar Wochen, glaubt die Expertin, „wird es gut gehen.“ Unter einer Voraussetzung allerdings: dass Heimbewohner und Pflegekräfte gesund bleiben. Die Personaldecke in den Heimen sei bereits jetzt so dünn, die Leiharbeitsfirmen komplett ausgebucht – „wenn dann noch 70 Prozent der Bewohner erkranken, dann weiß ich nicht, wie das aussehen könnte, dann werden wir noch zu ganz anderen Lösungen kommen müssen.“ Etwa: Angehörige um Mithilfe bei der Pflege im Heim zu bitten.