Gelsenkirchen. Der Verein Hürdenwellies betreibt Pflegestationen für Sittiche. Eigentlich Privatsache, doch die kleinen Vögel wuchsen einem Mann über den Kopf.

Wenn Andreas Oeser an dem Ast wackelt, auf dem diese beiden Wellensittiche gerade so traut sitzen, dann schrecken sie gleich auf. Denn ein Ast, der wackelt, ist für Wellensittiche wie eine Alarmanlage. Kommt eine Katze? Kommt eine Ratte? Nichts Gutes in den Augen der Wellensittiche. Ach, es ist nur Oeser. Keine Gefahr. Im Gegenteil. Oeser ist Wellensittichs Liebling. Und umgekehrt. Tschilp, tschilp.

In seinem Wohnzimmer in Gelsenkirchen-Ückendorf hält der 50-jährige Frührentner 30 Wellensittiche, und das nicht nur zum Vergnügen. Alles alte, kranke, behinderte, gemobbte oder flugunfähige Vögel, die aber gerade ganz munter durcheinanderzwitschern. Eigentlich zwitschern sie dauernd, solange es hell ist. Muss man mögen. Sie stammen von Haltern, die nicht mehr konnten oder wollten. Oeser ist Keimzelle, Gründer und Vorstandsmitglied des Vereins „Hürdenwellies“, der in West- und Norddeutschland sechs solcher Pflegestellen unterhält. „Jedes Lebewesen hat nur eine begrenzte Zeit. Wir schauen, dass sie eine gute Zeit haben, bis sie gehen müssen.“

„Wenn ich das Putzen gut machen will: zehn Stunden die Woche“

Mit einer Pipette verabreicht Andreas Oeser einem Wellensittich sein Medikament.
Mit einer Pipette verabreicht Andreas Oeser einem Wellensittich sein Medikament. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Natürlich ist es ein sehr ehemaliges Wohnzimmer, 18 Quadratmeter ohne jedes Möbelstück. Darin stehen zwei offene Voliéren für die fliegenden Wellensittiche und zwei geschlossene für die, die nur noch zu Fuß gehen können. In einer gemeinsamen Voliére würden sie von den Fliegern drangsaliert. Sodann im Raum: Futtereimer, Staubsauger, eine Fototapete mit Wald im Sonnenschein. Körner, Spelzen, Kotkleckse auf dem Laminat-Boden, ein Tropfen Blut. Viel Arbeit? „Wenn ich das Putzen gut machen will: zehn Stunden die Woche.“

Urmel sitzt da, Sina, Scotty. Pina mit den Spreizbeinen, die sich nur ziehen kann. Axel, ein 40-Gramm-Wellensittich, dem eine Acht-Gramm-Geschwulst wegoperiert wurde. „Axel wurde für einen Hahn gehalten, aber sie ist eine Henne“, sagt Andreas Oeser: „Jetzt heißt sie Frau Axel.“ Was die Frage nach einem Heimplatz angeht, könnten die Hürdenwellies-Mitglieder weit mehr als sechs Pflegestationen brauchen.

Wellensittiche, die Hürden überwinden müssen

Andreas Oeser hatte einen Wellensittich im Elternhaus, der hat ihn damals sozusagen auf den Geschmack gebracht. „Das sind alles kleine Kobolde, Clowns sind das.“ Vor zwölf Jahren begann er wieder, welche zu halten. „Ich wollte mehr Leben in der Bude.“

Nach ein paar Jahren wurden die ersten krank, Wellensittiche werden nicht alt, diese hatten Hodenkrebs und Nervenleiden. Oeser lernte, sie zu pflegen, zu behandeln, Schmerzmittel zu geben. „Irgendwann hatte sich herumgesprochen, dass der Oeser flugunfähige Vögel aufnimmt.“ Und so kam es, dass kleine bunte Vögel einem ausgewachsenen Mann über den Kopf wuchsen; es entstanden die „Hürdenwellies“ (für: Wellensittiche, die Hürden überwinden müssen).

Notfälle und Panikattacken mitten in der Nacht

In den Pflegestellen leben sie wieder artgerecht im Schwarm. Da war das traumatisierte Tier, das Hüfte hatte, das lange nur am Boden hockte – inzwischen sitzt es wieder auf einer Stange oben. Oder der Sittich aus einer Qualzucht: Er wurde auf Größe gezüchtet und so schwer, dass er nicht fliegen kann. Keine Chance im Schwarm – aber hier im Schwarm der Fußgänger ist er akzeptiert. Die übrigens alle oben im Käfig auf Stangen sitzen, weil sie am Gitter hochklettern können. Ein Sittich will nach oben.

Etwas Grünes zum Körnerfutter: Die Vögel fressen sehr gern frischen Dill (links).
Etwas Grünes zum Körnerfutter: Die Vögel fressen sehr gern frischen Dill (links). © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Ein Tierheim wäre keine Alternative, selbst eines für Vögel nicht. Oeser erzählt von „Notfällen und Panikattacken“, die die Tiere manchmal nachts kriegen, einer dreht durch, alles flattert durcheinander. „Darum mache ich abends die Voliéren alle zu, die Tiere würden mir sonst im Dunkeln gegen die Wände fliegen.“ Oeser geht dann rein, macht ein Nachtlicht an, und die Panik verfliegt langsam wieder.

Projekt Plappergarten: Die Tiere ziehen demnächst um in eine Freiluftvoliere

Im Frühjahr ziehen sie um. „Projekt Plappergarten“: Im Zuge der Stadterneuerung von Ückendorf wird in vielleicht 500 Metern Entfernung von Oesers Wohnung ein alter Garagenhof zu einer naturnahen Begegnungsstätte für die Bürger umgebaut.

Die Wellensittiche beziehen zwei dieser dann renovierten Garagen als Freiluftvoliere mit Durchbruch und Faltglastüren. Und Andreas Oeser zieht ihnen nach in das Haus, zu dem der Garagenhof gehört. Mit seinen Sittichen verbunden durch Kameras und Babyfon. Tschilp Tschilp. (www.huerdenwellies.de)