Dortmund. Hunderte halfen mit, zwei Krankenhäuser und drei Altenheime sind schon evakuiert. Nun wartet Dortmund: Liegen im Klinikviertel wirklich Bomben?
Die Sonne ist noch nicht zu sehen, da stehen sie schon aufgereiht auf dem Dortmunder Friedensplatz: 48 Rettungswagen, aus Köln und Bielefeld, aus Wesel und dem Sauerland, bereit, mehr als 100 schwer kranke Patienten aus drei Kliniken zu holen. Die Stadt erlebt nicht ihre größte, sicher aber ihre aufwendigste Evakuierung seit dem 2. Weltkrieg. Dessen Bomben offenbar immer noch im Boden liegen. Ob es wirklich welche sind, untersucht der Kampfmittelräumdienst ab Sonntagmorgen um sieben, bis dahin ist Dortmund im Herzen eine Geisterstadt.
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„Die 1 kann kommen!“ Regina Misiok-Fisch gibt den fröhlichen Befehl zum Abmarsch, aus dem Aufzug strömen in langer Reihe die Bewohner des Christinenstifts. Also die, die noch laufen können. Die meisten am Rollator, ein kleines Köfferchen dabei, eine Tasche, das meiste Gepäck hat ein Umzugswagen schon am Vortag weggebracht. Weshalb am Samstagmorgen auf Station 1 erstmal Zahnbürsten-Ausgabe ist: „Die meisten haben ja nur eine“, sagt Heimleiterin Misiok-Fisch.
Erste Amtshandlung im Übergangsheim in Herne: das Hissen der BVB-Flagge
Eigentlich zieht das Seniorenheim schon seit Montag um, sie haben Betten, Kaffeemaschinen, Toilettenpapier, ein paar Blümchen und jedem seine eigene, gut beschriftete Nachttischlampe nach Herne transportiert. Dort sind die Alten von St. Georg zu Wochenbeginn ausgezogen, sie bekommen ein neues modernes Haus und ließen nur ein paar Pflegebetten zurück. Die Feuerwehr half mit weiteren aus.
Als erstes hissten die Mitarbeiter im Westen die BVB-Flagge, die Dortmunder sollen sich ja heimisch fühlen für drei Tage, dann brachten sie zwölf Kästen Bier, ein paar Kisten Wein und „jede Menge Eierlikör“ nach Herne: Am Samstagabend ist Party für die 129, am Sonntag Kaffeetrinken mit „Public Viewing“, es werden die Sondersendungen zur Bombenentschärfung geguckt.
Vier Bomben oder mehr? „Es kann auch nur ein alter Heizkörper sein“
Wenn es denn etwas zu entschärfen gibt. Genau wissen das die Experten am Samstag noch immer nicht, sie buddeln sich vorsichtig an das Metall heran, das da nachweislich im Boden liegt an vier Stellen. Noch gilt das Wort des Ordnungsdezernenten: „Kann allerdings auch nur ein alter Heizkörper sein“, hatte Arnulf Rybicki im Dezember gesagt. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass es doch Blindgänger sind, liegt nach den Erfahrungen des Kampfmittelräumdienstes bei etwa 70 Prozent.
Am Westentor liegen die Verdachtspunkte, an der Beurhausstraße schräg gegenüber der Städtischen Kliniken mit ihren 1400 Betten, im Garten des Johanneshospitals womöglich („Evakuierungspunkt 2“), wo schon Haufen ausgegraben sind wie überdimensionale Maulwurfshügel, zweieinhalb Meter unter dem Parkplatz des Sozialamts, das alsbald renoviert werden soll. Am Samstag stehen überall die grünen Wagen der Entschärfer, Gerüstbauer helfen dabei, Zugänge zu den vermeintlichen Bomben zu schaffen, grüne Bagger halten ihre Hälse über die Löcher, die ein Experte „Blindgängereinschlagstelle“ nennt. Hier werden sie am Sonntagmorgen, sieben Uhr, vorsichtig graben, mehr als einen Meter dürfen sie am Vortag noch nicht an die Verdächtigen heran.
Ab acht Uhr muss das Viertel leer sein
Um acht Uhr müssen die Anwohner, an die 14.000, deshalb ihre Wohnungen am Sonntag verlassen haben. Nichts geht dann mehr im Klinikviertel, „Wegen einer Bombenentschärfung geschlossen“, steht an allen Restaurants und auch an der katholischen Kirche, Friseur und Fleischer haben schon am Samstag zu. Das Theater spielt weder „Dämonen“ noch „Widersacher“, die liegen Schauspiel und Oper sehr real und in nächster Nähe zu Füßen. Busse und Bahnen fahren im Bogen um die Innenstadt herum und am Nachmittag, während fünf Teams im Falle des Falles nach und nach entschärfen, gar nicht mehr.
Doch schon am Samstag wirkt das sonst mit Menschen und noch mehr mit Autos so belebte Klinikviertel wie eine Geisterstadt. Die Parkstreifen leer, die Patienten in den Kliniken fort, die Rettungswagen haben schon am Mittag ihren Dienst getan, 20 Kinder aus der Kinderklinik, die man nun wirklich nicht entlassen konnte, sind bereits um kurz nach neun alle in den Städtischen Kliniken Nord untergebracht. Im Johannes-Hospital brauchen sie für mehr Menschen etwas länger, ein Leitsystem mit bunten Punkten führt die Sanitäter in die richtige Einfahrt.
Container sollen Wohnhäuser und eine Kirche vor möglicher Druckwelle schützen
Im Klinikum hat ein Gutachter bestimmt, dass die Patienten „nur“ verlegt werden dürfen in sichere Gebäudeteile. Nach Masterplan ist auch das bis zum frühen Vormittag erledigt, sogar der Direktor der Orthopädie und der Geschäftsführer haben Betten geschoben, 6.30 Minuten dauerte der längste Weg. Sie haben Schritte gezählt, gerechnet und ein „Aufzugsmanagement“ eingesetzt, damit der Fahrstuhl zur rechten Zeit in der richtigen Etage bereitstand.
Nach den Rettungswagen kommen die Tieflader ins Quartier, sie bringen Container, 24 Meter lang, fünfeinhalb hoch und alle zusammen 152 Tonnen schwer. Wie Bauklötzchen werden sie aufgeschichtet, sie sollen die Alexanderstraße schützen und die Blutbank der Klinik, das Kirchengebäude der griechisch-orthodoxen Gemeinde und viele, viele Häuser. Wissenschaftler haben ausgerechnet, wohin die Druckwelle drängt, wenn doch etwas explodiert oder gesprengt werden muss. Die Container, mit tonnenschweren Betonblöcken beschwert und riesigen Spezialschrauben verbunden, sollen die Welle aufhalten. „Sie sind“, sagt Mathias Weber, Geschäftsführer der Firma Bloedorn, „wie ein Deich.“ Tatsächlich legt die Feuerwehr ihnen zusätzlich Sandsäcke zu Füßen.
Männer, die den Krieg mitgemacht haben, wollen jetzt nicht fort
Manchem macht das ein mulmiges Gefühl, den alten Frauen aus dem Christinenstift besonders: Viele haben die Evakuierungen des Bombenkriegs ja noch erlebt. Mit einigen Männern indes hat Chefin Regina Misiok-Fisch am frühen Morgen diskutieren müssen: „Die sagen mir, sie haben den Krieg mitgemacht, da gehen sie doch jetzt nicht wegen eines Blindgängers fort.“
Andere gibt es, die haben vom Unheil noch gar nichts mitbekommen. Drei Zettel hängen an den meisten Türen: das Informationsblatt der Stadt, das am Montag im Briefkasten lag, zwei weitere Hinweise, dass Gas und Strom am Sonntag abgestellt werden. Und aus vielen Zeitungsschlitzen schaut der Stadtanzeiger, Schlagzeile: „Alle müssen raus!“ Und doch steht ein junger Mann in der Johannesstraße am Morgen einigermaßen verwundert vor seiner Tür, keine Autos mehr da, was ist denn hier los? Und eine Frau steuert hilflos ihren Wagen mit Dortmunder Kennzeichen im Kreis. Kein Durchkommen, „Bomben-Evakuierung“, erklärt jemand. „Habe ich nicht mitbekommen“, sagt die Frau.
Riesiger Stab aus Experten plante monatelang
Dabei plant die Stadt schon seit dem Herbst, es grübelten Feuerwehr, Ordnungsamt, Polizei, Stadt, Kliniken, Heimträger, Ladenbesitzer, Hoch- und Tiefbauer… über Lösungen und Logistik, über all’ den Rädchen, die nun ineinandergreifen. Nicht auszudenken, wenn etwas schiefginge! Aber auch nicht, dass an allen vier Blindgängerverdachtspunkten am Ende nur alte Heizungen lagen...