Witten/Ruhrgebiet. Nutrias vermehren sich ungehemmt an der Ruhr. „Wenn sie die Dämme am Kemnader See durchlöchern, wird es gefährlich“, sagt ein Experte.

„Die sehen drollig aus, wenn die einen angucken, die haben so schöne rote Schneidezähne.“ Hans-Peter Steger findet die Nutrias durchaus putzig, die seinen Campingplatz in der Wittener Ruhraue umzingeln. „Die machen Männchen und holen sich ihre Brötchen oder ‘nen Apfel ab“, einige fressen gar aus der Hand. „Und wenn die Camper nicht schnell genug füttern, beißen die schon mal in die Fußnägel.“ Sie sind so zutraulich, weil sie kaum Feinde haben. Die Nutrias haben sich derart vermehrt an der Ruhr, dass auch Umweltschützer mehr Abschüsse fordern.

Dafür gibt es zwei Gründe. Die Nutrias sind recht neu im Ökosystem und bringen es gehörig durcheinander. „Und sie richten wasserwirtschaftlich einen enormen Schaden an“, sagt Martin Maschka, Gewässerwart und Gründer der „Wildnisschule Ruhrgebiet“ in Hattingen. „Wenn sie die Dämme am Kemnader See durchlöchern, wird es gefährlich.“ Soweit ist es noch nicht, aber der Ruhrverband bestätigt, dass in dieser Saison vermehrt „Fraß- und Wühltätigkeiten“ zu beobachten sind. „Es ist noch kein Riesenproblem, aber es kann eines werden“, sagt Sprecher Markus Rüdel. „Andere Wasserverbände sind schon stärker betroffen.“

Die Zahl der geschossenen Nutrias hat sich bereits verzehnfacht

Nutrias in der Ruhr, darunter ein Albino – ein normaler Anblick vor dem Campingplatz Steger in Witten.
Nutrias in der Ruhr, darunter ein Albino – ein normaler Anblick vor dem Campingplatz Steger in Witten. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

Belastbare Zahlen zu den Beständen haben weder die Unteren Naturschutzbehörden noch die Jäger und Angler oder die Umweltorganisation Nabu. Doch alle teilen Maschkas Einschätzung, dass die Nutrias stellenweise zum Problem werden. Seit einem Erlass des Innenministeriums 2008 sind Jäger ohnehin bereits angehalten, die Nager schärfer zu bejagen. Die Zahl der getöteten Tiere hat sich seit der Jahrtausendwende etwa verzehnfacht auf rund 17.400 in NRW.

Dennoch hat sich die Nutria fast flächendeckend etabliert. Die Art profitiert von den milderen Wintern, ist „Klimawandelbegleiterin“. Allein bei einer Expedition an der Ruhr in Witten und Wetter hat Maschka rund 50 Tiere gezählt, in Bochum-Stiepel mehr als 40. Um den Baldeneysee seien weniger Tiere unterwegs, von den Mülheimer Wehren bis zum Rhein gebe es wieder größere Bestände. „Wir haben hier ein Massenaufkommen.“

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An diesem grauen Wintertag paddeln vor dem Bootsanleger des Campingplatzes Steger mehrere Nutrias, darunter eine mit weißem Fell. Zwar stammen die Ruhr-Nutrias nicht von der südamerikanischen Wildform ab, sondern von Zuchttieren, die nach dem Niedergang der Pelzindustrie ausgesetzt wurden – jedoch ist dieses gelblich-weiße Fell keine Züchtung, sondern eine extrem seltene Pigmentstörung. Dass ein Albino etwa zweieinhalb Jahre überlebt hat, überrascht Maschka. Nun ist das Tier so groß, dass ihm Hecht, Wels oder Greifvögel nicht mehr gefährlich werden, allenfalls Fuchs, Dachs oder Marderhund zählen zu seinen Feinden. Selbst Hunde können Nutrias oft abwehren mit ihren Krallen und den rötlichen, weil eisenhaltigen Nagezähnen. Gerade knabbert es an Zweigen.

Die Schilfgürtel schrumpfen

Das genau ist das Problem: Einen deutlichen Rückgang der Schilfgürtel hat Stefan Jäger schon festgestellt – allerdings seien die Nutrias nicht allein schuld daran, sagt der Geschäftsführer der Ruhrfischereigenossenschaft. Auch Schwäne und einige Gänsearten fressen so viel, dass das für viele Arten wichtige Habitat schrumpft. Auch andere Wasserpflanzen sind betroffen, ganze Bestände an Pfeilkraut sind schon verschwunden, sagt Joachim Schmitting, Biologe der Unteren Naturschutzbehörde in Essen. „Es ist bedauerlich, wenn man sieht, wie sich manche Wasserpflanzenbestände entwickeln.“

Putzig sind sie ja, doch vom Füttern raten Naturschützer ab.
Putzig sind sie ja, doch vom Füttern raten Naturschützer ab. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

„Einerseits hat die Nutria den Rang eines Bibers eingenommen und hält unsere Gewässer sauber“, so Maschka. Andererseits sei das ökologische Gleichgewicht nicht mehr gegeben. „Ich bin zwar Umweltschützer. Aber ja, man muss sie bekämpfen.“ Denn auch Muscheln fressen die Nutrias kiloweise, bevorzugt allerdings nicht die ebenfalls invasive asiatische Körbchenmuschel, sondern die größeren heimischen Maler- und Flussmuscheln, erklärt Maschka. „Die Muschel ist für unser Ökosystem von herausragender Bedeutung“ Hier lege etwa der Bitterling, ein recht kleiner Karpfenfisch, seine Eier ab – ohne kann er sich nicht fortpflanzen. Hier allerdings relativiert Stefan Jäger: „Der Bitterling ist in der Ruhr nicht so häufig, dass man da einen indirekten Zusammenhang herstellen muss.“

Naturschützer sind für „lokale Regulierung“

Auch der Nabu ist der Meinung, „dass die Nutria-Bestände lokal reguliert werden müssen“, erklärt NRW-Sprecherin Birgit Königs. Das sei zum Beispiel der Fall bei Issum, wo die Schneide, eine vom Aussterben bedrohte Grassorte vorkommt. Auch die Untere Naturschutzbehörde in Essen stuft die Nutrias mittlerweile als Problem ein, doch einen Plan gibt es noch nicht. „Man muss abschätzen“, so Schmitting, „ob eine stärkere Bejagung für ein bestimmtes Gebiet eine Lösung sein kann.“

Mitunter ruft auch Campingplatzbetreiber Hans-Peter Steger den Jäger. „Aber wenn man fünf entnimmt, gehen die anderen sofort in ihre Kammer und machen neue.“ Das hat auch die Albino-Nutria schon getan. Seit Kurzem schwimmen fünf auffallend hellpelzige Junge hinter ihr her.

>> Info: Biber, Nutria und Bisam – so unterscheidet man sie

Nutrias erreichen eine Körperlänge von etwa 65 cm und haben einen im Querschnitt runden Schwanz. Biber dagegen werden bis zu einen Meter groß und tragen die charakteristische Kelle. Der Bisam wiederum ist nur etwa halb so klein wie ein Nutria (und gehört zu den Wühlmäusen, weswegen Bisamratte nicht richtig ist).

Während Biber noch sehr selten sind in NRW, vermehrt sich auch der Bisam deutlich. Laut Jagdstatistik wurden in der vergangenen Saison etwa 4.000 Tiere geschossen, 305 mehr als im Vorjahr. Die drei Arten treten nicht gemeinsam auf, Biber verdrängen die Kleineren und Nutrias den Bisam.

Nutrias stammen aus dem südlichen Südamerika und standen wegen der Pelzjagd im 19. Jahrhundert kurz vor der Ausrottung. Sie können über zehn Jahre alt werden und halten keinen Winterschlaf.