Dortmund. In der Kita arbeiten Erzieher im Spannungsfeld von Distanz und Nähe. Bei einigen steigt die Verunsicherung zwischen Wickeltisch und Wasserspaß.

Die Missbrauchsfälle in Lügde und Bergisch Gladbach, immer wieder die Kirche, dann die Diskussion um die nun verbotene Spielmethode „Original Play“, bei der fremde Erwachsene in den Kindergarten kommen, um zu balgen – natürlich sind auch Eltern und manche Erzieher verunsichert. Fragen sich: Wie ist das mit dem Körperkontakt in der Kita – wo sind die Grenzen, wie die Kontrollen? Erfahren Kinder tatsächlich zu wenig Berührung? Wann ist es geboten, ein Kind zu umarmen – und wie kommt es an bei Beobachtern? Das Spannungsfeld von Nähe und Distanz prägt den Alltag im Kindergarten – doch zugleich bleiben die Profis entspannt.

Das Kind als „gleichberechtigter Erziehungspartner“

„Möchtest Du dich vielleicht neben Yvonne setzen“, fragt Christoph Müller das rothaarige Mädchen, „dann kann der Fotograf dich besser sehen.“ Der Leiter der Awo-Kita Nortkirchenstraße in Dortmund fragt nicht nur pro forma, er formuliert und begründet seine Vorschläge so, dass die Kinder auch nein sagen können. Sie sind für ihn „gleichberechtigte Entwicklungspartner“. Das hört sich sehr theoretisch an, ist aber der Schlüssel, wenn Kinder lernen sollen, Grenzen zu setzen.

„Sie dürfen zum Beispiel auswählen: Wer darf mich wickeln“, sagt Müller. Das gilt selbst für die Kleinsten, sie krabbeln dann auf ihren Favoriten zu, denn es sind in der Regel drei Erzieher, weiblich oder männlich, in der Gruppe. „Und wenn sich ein Kind partout nicht wickeln lässt, dürfen wir nicht übergriffig werden. Dann rufen wir die Eltern an.“

„Kinder haben ein Bedürfnis nach Körperkontakt, weil sie darüber Emotionen ausdrücken“, sagt Yvonne Schwartz, Leiterin der Awo-Kita an der Phoenixseestraße. Müller ergänzt: „Bildung gelingt, wenn wir eine gute Bindung haben. Das hat viel mit Vertrauen zu tun.“

„Auch wenn ein Erzieher so angefasst wird, wie er es nicht möchte, muss er das sagen“: Yvonne Schwartz, Kitaleiterin am Phoenixsee.
„Auch wenn ein Erzieher so angefasst wird, wie er es nicht möchte, muss er das sagen“: Yvonne Schwartz, Kitaleiterin am Phoenixsee. © FFS | Ralf Rottmann

Damit das erhalten bleibt, hat die Arbeiterwohlfahrt (Awo) wie alle Träger ein Schutzkonzept. Darin sind auch die Alarmzeichen für sexuelle Übergriffe angesprochen, die Müller als Beispiele nennt: „Wenn sich ein Erzieher oder eine Erzieherin mit einzelnen Kindern zurückzieht und die Türen schließt. Wenn sie einzelne Kinder bevorzugen.“ Und Kinder sind auch keine Kuscheltiere. „Jeder Kollege weiß zudem, wenn der andere wickeln geht.“ Über die Position von Wickeltischen könnte man Abhandlungen schreiben. Ein Außenstehender soll nicht die nackten Kinder sehen, aber die Erzieher sollen das Gefühl haben, es könnte einer reinkommen.

„Wer kommt in meine Arme“ wird aber weiterhin gespielt in Kitas, natürlich dürfen Kinder auf den Schoß. Und selbstverständlich wischt die Erzieherin oder der Erzieher ihnen auch den Popo ab, wenn sie das noch nicht können. Aber immer gilt es zu fragen: „Möchtest du das?“ – Oder das Kind ruft vom Klo seinen Lieblingshelfer „Ich bin fertig.“

Das Küsschen zum Abschied ist fehl am Platze

Doch auch „wenn ein Erzieher so angefasst wird, wie er es nicht möchte, muss er das sagen und begründen“, erklärt Yvonne Schwartz. Das Küsschen zum Abschied etwa ist fehl am Platze. „Du, das möchte ich gar nicht für mich“, sagt man dann zum Beispiel. Oder: „Das mache ich mit meinem Mann zu Hause.“

Erst vor drei Wochen war ein Kollege bei Christoph Müller, der wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte, dass die Kinder ihn bei der Verabschiedung umarmen – naturgemäß in Gürtelhöhe. „Wie wirkt das auf die Eltern?“ Er dreht sich nun zur Seite oder hockt sich: „Können wir uns mal richtig in den Arm nehmen.“ Kurz danach kam aber auch eine Erzieherin zu Müller, die es unangenehm fand, dass ein Zweijähriger ihr immer wieder an die Brust greifen will. „Die Kollegen sollten vielleicht mal miteinander sprechen“, lacht Müller. Sprechen, findet er, hilft fast immer – ohne Tabus.

Das sagt auch Martina Niemann, Leiterin des Kinderschutz-Zentrums Dortmund. Jede Kita müsse im Team eine „gemeinsame Haltung, die sie den Eltern vermitteln kann“. Schlecht wäre es zum Beispiel, sich von Eltern überraschen zu lassen, die aufgebracht sind, weil ihr Jungen der Patient beim Doktorspiel war. Aber Kinder seien nun mal von Natur aus neugierig, findet Müller. Und „wenn man mal den Pipimann erforscht“, sei das erst einmal normal. Das müsse man den Eltern dann eben vermitteln, bei denen Unsicherheiten bestehen.

Wickeln ist auch Männersache, sollen Kinder früh lernen

„Die Verunsicherung ist besonders auch bei männlichen Erziehern ist gestiegen. Es ist ja in vielen Einrichtungen weiter so, dass männliche Erzieher nicht alleine wickeln dürfen.“, sagt Niemann. Das findet Christoph Müller fatal, dessen Belegschaft zur Hälfte männlich ist: „Das macht ganz klar was mit der Wertigkeit des Kollegen. Dann geht das Gerede los.“ Es geht aber auch um Vorbilder und Rollenklischees, die Kindern früh vermittelt werden. Kürzlich noch hat Müller muslimischen Eltern, die das Wickeln durch Männer nicht akzeptieren wollten, gesagt: „Tut uns leid, wir sind dann vielleicht nicht die richtige Einrichtung für Sie.“ Aber die Argumente wirkten, die Eltern ließen ihr Mädchen an der Nortkirchenstraße.

Auch Nacktheit ist kein Tabu. Wird draußen geplanscht, tragen die Kinder einen Badeanzug oder Schlüpfer. „Aber sie ziehen sich auch im Flur um und plötzlich haben sie dreißig nackte Popos, die auf der Suche nach Kleidung durchs Haus laufen.“ Zudem gibt es einen „Wassererfahrungsraum“, in dem Kinder zu dritt matschen und mit Farben schmieren dürfen – auch nackt, wenn sie es wollen. Die Kollegen seien in all diesen Situationen sehr sensibel, sagt Müller. Einerseits gilt es, die Kinder zu schützen, vor Blicken von außen. Andererseits soll ihnen nicht das Gefühl gegeben werden, dass ihr Körper „iiieeh bah“ ist.

>> Info: Hier finden Betroffene Rat und Unterstützung

Kinderschutz-Zentren gibt es in Dortmund und Essen. Hier finden Kinder, Eltern und Erzieher Rat, wenn es um den Verdacht von Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung geht. Dortmund: 0231/20 64 580 Essen ist zu erreichen unter: 0201/20 20 12.

Das Dortmunder Programm „Taffy – Ich kann brüllen wie ein Löwe“ hilft Kindern in vielen Kitas, Grenzen zu erkennen.