Duisburg. Marina Deck wurde vor fünf Jahren von einem 13 Jahre alten Schüler verprügelt. Die Lehrerin, die sie früher war, kann sie heute nicht mehr sein.
Fünf Jahre ist es her, dass Marina Deck von einem Schüler zusammen geschlagen wurde. Die 47-jährige Lehrerin würde den Vorfall gern „vergessen und abschließen“, aber es gelingt ihr nicht. Die Schule, an der es passierte, hat sie längst verlassen, die Trauma-Therapie abgeschlossen. Doch noch immer darf niemand in ihrem Rücken stehen. „Niemals, selbst im privaten Bereich nicht.“ Deshalb meldete sie sich auf unseren Aufruf – als einzige Betroffene, die bereit war zu reden. Noch immer überwältigen sie die Gefühle, stockt ihr die Stimme, fließen die Tränen, wenn sie ihre Geschichte erzählt.
Es geschah kurz nach der Pause, an einer Förderschule mit emotional-sozialem Schwerpunkt, einer für schwierige, verhaltensauffällige Kinder, „irgendwo im Revier“. Den genauen Ort mag die gebürtige Russin, die 1993 nach Deutschland kam, hier nicht lesen. „Es hatte geschellt, aber als ich in in die Klasse kam, war kaum jemand da“, erzählt die Lehrerin, die heute an einer Grundschule in Duisburg unterrichtet. Auf dem Pausenhof hatte es kurz zuvor Ärger gegeben, habe sie gehört. Und als sie aus dem Fenster auf den Schulhof geschaut habe, habe sie da einige ihrer Schüler erblickt. Marina Deck ging sie holen.
„Es hagelte es Faustschläge und Tritte, volle Pulle“
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„Der Junge mit der Feuerzeug“, erinnert sie sich, „hockte unter einem Baum. Ein anderer saß oben in dessen Krone und ein dritter war gerade dabei den Baum hoch zu klettern.“ Der Junge mit dem Feuerzeug bedrohte die beiden anderen, die beschimpften ihn, es flogen Äste, es wurde sehr laut und sehr hässlich. Die Lehrerin versuchte, die Situation zu entschärfen. Vergeblich. „Nichts hat was gebracht.“ Deshalb rief sie in Sorge um die Schüler schließlich im Sekretariat an, bat um Hilfe. Froh, dass sie doch dem Rat der Kollegin gefolgt war, die sie gleich an ihrem ersten Tag an dieser Schule „aufgeklärt“ habe: „Geh nirgendwo ohne dein Handy hin. Du wirst es hier brauchen“, hatte die ihr geraten.
Deck wollte warten, bis die Hilfe eintraf, ging ein wenig zur Seite. Das letzte vor dem Angriff, an das sie sich erinnert, war dann ein – wie sie dachte – blöder Spruch des Jungen unter dem Baum: „Ich weiß, wo du wohnst, Du wirst noch was erleben.“ Dann hagelte es Faustschläge und Tritte. „Überall hin, volle Pulle.“ Der Junge mit dem Feuerzeug, der sie verprügelte, war nicht einmal 14 Jahre alt, „ aber groß und kräftig“. „Wir hatten noch kurz zuvor seine neuen Schuhe bewundert. Größe 46“, erinnert sich die Pädagogin.
„Man hat das immer im Hinterkopf“
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Die Kollegen brachten sie zum Arzt und riefen die Polizei, erstatteten Anzeige. „Später gab es Gespräche mit der überforderten Mutter des Jungen, eine Psychologin untersuchte das Kind, regte dessen Einweisung in die Psychiatrie an“, berichtet Deck. Die Schulleitung habe Blumen geschickt, die Unfallkasse unkompliziert das Finanzielle geregelt. Doch als die zweifache Mutter nach vielen Wochen, in denen sie krank geschrieben war, zurück in den Unterricht kehrte, war sie nicht mehr dieselbe Lehrerin wie zuvor. „Man hat das immer im Hinterkopf“, sagt sie. „Man muss schlucken, wenn im Treppenhaus jemand hinter einem steht, man versucht, immer als erste in der Klasse zu sein….“ Erst später erfuhr sie, dass an der Förderschule schon zweimal zuvor Lehrerinnen angegriffen worden waren, eine von einem Schüler sogar krankenhausreif geprügelt wurde. „Die Schulleitung hat das bewusst verschwiegen“, glaubt sie heute. Marina Deck konnte nicht länger bleiben. „Das Licht war aus“, sagt sie.
Die Pädagogin wechselte zu einer Grundschule in Duisburg, unterrichtet derzeit 24 I-Dötze in einer ersten Klasse. Ihren Beruf liebe sie noch immer, sagt sie.
„Viele Schulen schweigen, weil sie um ihren guten Ruf fürchten“
Das Thema „Gewalt gegen Lehrer“ werde unter den Teppich gekehrt, glaubt Marina Deck, weil die Betroffenen möglichst schnell vergessen wollen und die Schulen, an denen es passierte, um ihren Ruf fürchten. Tatsächlich enden Gespräche mit Lehrern, die anfangs bereit scheinen zu erzählen, gern mit den Worten: „Ich bin verbeamtet, an die Öffentlichkeit gehe ich mit dieser Geschichte sicher nicht.“ „Und die Schulen selbst reden nicht über solche Vorfälle, weil sie Angst haben, dass gute Familien sie dann meiden und das Niveau sinkt“, meint Marina Deck. Dabei sei Gewalt gegen Lehrer häufiger, als viele dächten. Die jüngste LKA-Statistik bestätigt Marina Decks Aussage. „Traurige Realität“, nennt sie sie.
Gewalt gegen Lehrer: 2018 registriert das LKA 435 Fälle
Das Landeskriminalamt (LKA) hat Ende September eine Studie zum Thema Gewalt gegen Lehrkräfte veröffentlicht. Demzufolge wurden im vergangenen Jahr 435 Fälle in NRW registriert, darunter 263 Körperverletzungsdelikte. 500 Lehrerinnen und Lehrer seien insgesamt betroffen gewesen.
Das bedeute einen Anstieg der Fallzahlen um rund 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Zuletzt war in Duisburg der kommissarische Rektor einer Hauptschule von einem 14-Jährigen verprügelt worden. Er musste mit einer Augenverletzung im Krankenhaus behandelt werden. Der Vorfall ereignete sich im August.
Der Chemielehrer einer Dortmunder Schule soll im Mai von drei Schülern(16,17,18) in einen Hinterhalt gelockt worden sein. Er sollte umgebracht werden, glaubt die Staatsanwaltschaft, weil einer der drei mit seiner Benotung unzufrieden war. Die drei Teenager müssen sich demnächst vor dem Landgericht Dortmund verantworten. Die Anklage lautet auf: Versuchter Mord.
Die Ursachen? „Sind vielfältig“, sagt Deck, sie lägen vor allem „im Haushalt der Kinder“. Viele Eltern interessierten sich gar nicht mehr für ihren Nachwuchs und deren schulisches Vorankommen. Gesellschaftliche Werte hätten sich zudem stark geändert, Lehrer „kaum noch was zu sagen“, „Wir werden nicht mehr so geachtet wie früher.“ Aber das ginge Polizisten ja auch nicht anders. Ohne Unterstützung „gehen wir unter“, glaubt die Lehrerin. Und das täte ihr leid, vor allem für die Kinder, für die „schwierigen und für die guten“. „Den die gehen mit uns unter.“
Lehrer lernen, wo sie am Elternabend sitzen sollen – falls der eskaliert
„Täter“ seien im Übrigen nicht nur Schüler, sondern oft auch deren Eltern, ergänzt Deck schließlich. „Man wird angepöbelt, beschimpft und bedroht. Ich kenne Kollegen, die sich nach einem Elternsprechtag nicht getraut haben, die Schule zu verlassen, weil unzufriedene Väter mit Freunden auf sie gewartet haben.“ Auf Fortbildungen lernten Lehrer, wie sie sich beim Elternsprechtag hinsetzen sollten. „Um schnell den Raum verlassen zu können, wenn es zu Eskalationen kommen sollte.“
Marina Deck hat ihre eigenen Gewalt-Erfahrungen und die anderer Kollegen in einer (fiktiven) Erzählung verarbeitet. Sie versteht sie als Kritik am Schulsystem in NRW. Das Buch erschien 2017 im Selbstverlag. „Scherbenhaufen Schule“ heißt es.
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