Essen. Josef Cercek hat seine Tochter beim Germanwings-Absturz in Frankreich verloren. Er findet es „abscheulich“, was die Lufthansa jetzt behauptet.
Die dabei waren, sind alle tot. Niemand kann mehr erzählen, ob die Menschen an Bord Todesangst hatten, bevor die Germanwings-Maschine an einem Berg in Frankreich zerschellte. Ob sie schrien, ob sie verstummten – oder ob sie überhaupt ahnten, was geschehen würde. Viereinhalb Jahre nach dem Absturz von Flug 4U9525 mit 150 Toten aber sagt die Lufthansa: Der Flugverlauf sei „unauffällig“ gewesen, die Passagiere hätten nichts mitbekommen. Hinterbliebene sind entsetzt – dabei würden viele gern glauben, dass es so war.
Josef Cercek wollte nach Frankreich, als die Post von seinem Rechtsanwalt kam, darin die Klageerwiderung der Lufthansa für das Essener Landgericht. Der 75-Jährige war in Le Vernet, besuchte den Friedhof unterhalb der Absturzstelle, auf dem sie damals Leichenteile beerdigten, die sie niemandem zuordnen konnten. „Da liegt auch noch was von meiner Tochter.“ Von Sonja, die 35 war und eine der beiden Lehrerinnen, die mit ihren 16 Spanisch-Schülern aus Haltern am See im Flugzeug saß. Josef Cercek findet es „abscheulich“, was die Lufthansa behauptet: „Als wenn die Kinder nichts gemerkt hätten!“ Schlug nicht der Pilot mit der Notfallaxt gegen die Cockpit-Tür, sackte die Maschine nicht immer tiefer, „und wenn man rausguckt, sieht man das doch auch“.
Josef Cercek findet keine Ruhe seit dem Tod seines Kindes
Es ist wichtig zu wissen, ob das so war an jenem 24. März 2015. Nicht nur für Josef Cercek, der so gern einmal wieder durchschlafen würde. Oder malen, wofür er keine Ruhe findet seit dem Tod seines Kindes. Nicht nur für Beate Maue aus Mülheim, die immer noch träumt von der Angst ihrer Schwester Claudia, wie sie vielleicht greift nach der Hand ihres Mannes Jürgen, ganz vorn in Reihe 3.
Es ist wichtig für die Juristen. Für die Beantwortung der Frage, ob den Hinterbliebenen mehr Schmerzensgeld zusteht. 40 Familien, fast 200 Angehörige und darunter auch Josef Cercek, haben Germanwings und ihre Mutter Lufthansa verklagt; Menschen, die ihre Kinder, ihre Geschwister verloren haben. Der Berliner Rechtsanwalt und Luftfahrt-Experte Prof. Elmar Giemulla hilft ihnen dabei, er argumentiert unter anderem mit der Todesangst, die die Insassen des Fliegers, 144 Passagiere und sechs Besatzungsmitglieder, erlitten hätten.
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Was er seinen Mandanten zur Kenntnis in die Post steckte, ist ein Schriftsatz von 118 Seiten, wie er ganz normalerweise ausgetauscht wird in einer Zivilsache. Giemulla legte seine Sicht der Dinge dar, und er tat es am Landgericht Essen, weil in diesem Bezirk so viele seiner Mandanten wohnen: etwa die Eltern der Halterner Schüler. Die Lufthansa erwiderte die Klage, sie hat beantragt, sie abzuweisen: Ob und was die Passagiere mitbekommen hätten, sei Spekulation, pauschal zu behaupten, sie hätten Todesangst gehabt, sei zu bestreiten. Die Fluggesellschaft beruft sich bei ihrer Einschätzung auf den Abschlussbericht der Untersuchungsbehörden.
„Wir und die Opfer werden verhöhnt“
Darin allerdings steht, was Aufnahmen des Stimmrekorders belegen: dass der ausgesperrte Pilot mehrfach an die Cockpittür schlug und lautstark Einlass verlangte. Auch sei der von Copilot Andreas Lubitz in selbstmörderischer Absicht eingeleitete Sinkflug mit rund 90 Stundenkilometern „mehr als dreimal so schnell wie üblich“ gewesen, sagt Anwalt Giemulla. Die Menschen an Bord hätten sehr wohl „unvorstellbare Todesängste“ ausgestanden, etwas anderes zu behaupten, sei „pietätlos“. Giemulla glaubt, dass die Airline sich mit ihrer Rechtsauffassung die Zahlung zusätzlichen Schmerzensgelds ersparen möchte.
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Das denkt auch Josef Cercek: „Die versuchen alles, um möglichst nicht zahlen zu müssen“, sagt der Vater der Lehrerin Sonja Cercek. „Wir und die Opfer werden verhöhnt.“ Mit diesem Gefühl ist er nicht allein. „Nicht nur, dass wir den Tod verarbeiten müssen“, sagt Beate Maue, Schwester von Claudia Diemer, „die halten uns auch noch für blöd, und vor allem stellen sie unsere Angehörigen so dar.“ Maue, die an der Klage nicht einmal beteiligt ist, wirft der Lufthansa „ethische und moralische Verwerflichkeit“ vor: „Diese Tritte, die wir aushalten müssten, diese absolut despektierliche Verunglimpfung der sicherlich schlimmsten Minuten, die die Menschen im Flugzeug hatten...“ Auch für die Schwester und Tante zweier weiterer Opfer ist „nicht nachvollziehbar“, dass ihre Lieben keine Todesangst gehabt haben sollen. „Es gibt genügend Hinweise“, sagte Marlies Weiergräber in der „Bild“, „die das Gegenteil beweisen.“
„Wir lassen die Lufthansa nicht vom Haken“
Darüber müssen nun Richter in Essen befinden. Einen Termin zur Verhandlung gibt es nach Auskunft des Landgerichts noch nicht, aber es gab schon mal einen: Im Februar sollte der Zivilstreit zwischen Germanwings und den Angehörigen verhandelt werden, kurz vor Weihnachten 2018 aber erweiterte Giemulla die Klage auf die Konzernmutter: „Wir lassen die Lufthansa nicht vom Haken“, sagte er damals.
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Die weist darauf hin, bereits insgesamt 35.000 Euro pro Opfer und für nahe Angehörige gezahlt zu haben und sich „mit einer Vielzahl von Hinterbliebenen“ über weitere Zahlungen geeinigt zu haben. Auch seien je 50.000 Euro Soforthilfe geflossen. „Zu wenig für den erlittenen Schmerz“, findet Elmar Giemulla. Er fordert für seine Mandanten weitere 55.000 Euro. In einem ähnlichen Prozess vor dem Landgericht Düsseldorf hatte sich die Lufthansa schon vor einem Jahr mit fünf Familien verglichen.
Angehörige wollen, dass die Schuldfrage gerichtlich geklärt wird
Dabei, sagt Josef Cercek, geht es ihm gar nicht ums Finanzielle. „Kein Geld der Welt gibt mir mein Kind wieder.“ Cercek, dessen Frau lange vor seiner Tochter starb, sagt: „Alles, was ich verlieren konnte, habe ich verloren.“ Dafür will er eine mindestens „angemessene“ Entschädigung, vor allem aber, dass vor Gericht die Schuldfrage geklärt wird. Die Fluggesellschaft hätte ihren psychisch kranken Piloten Lubitz, der das Flugzeug nach allen Ermittlungen gegen die französischen Berge lenkte, nicht fliegen lassen dürfen; dafür sei die Lufthansa verantwortlich, finden die Angehörigen. Deshalb will Josef Cercek, der 75-Jährige, nicht aufgeben. Obwohl auch das stimmt: „Ich wäre froh, wenn die ganze Geschichte endlich mal vorbei wäre.“