Dortmund. Im Dortmunder Kochbuchmuseum erforscht Corinna Schirmer den Wandel der Gesellschaft – am Beispiel ihrer Fleisch-Rezepte.
Man (oder besser: frau) hat noch gewusst, wo das Schwein seinen Schinken hat und das Rind seine Nuss. Und am Sonntag kam der gleichnamige Braten auf den Tisch. Das waren noch Zeiten, sie sind nicht einmal lange her. Weshalb Wissenschaftler jetzt am Thema „Fleisch“ erforschen, wie sich die Gesellschaft gewandelt hat. In Dortmund sucht Corinna Schirmer solches „Fleischwissen“ im Deutschen Kochbuchmuseum.
„Man nehme“, schrieb die Dortmunder Kochbuchautorin und Hauswirtschafterin Henriette Davidis im 19. Jahrhundert, aber dann ging sie gar nicht ins Detail. Zwiebeln anschwitzen, Wasser kochen, gelb werden lassen… Aber wie und wieviel? Das hat „die gute Hausfrau“ damals gewusst, die brauchte keine Zutatenliste, die hatte ein alphabetisches Register. Mit allein 43 Schweinefleisch-Kapiteln und wichtigen Hinweisen wie: „Die Sauce, mit der das Fleisch angerichtet wird, muss reichlich und sämig sein.“ Punkt. Moderne Kochbücher haben Kalorien-Angaben.
Töten ist tabu, man kauft jetzt das Filet in Folie
„Die gute Hausfrau“ hat bei Frau Davidis auch noch gelernt, dass dem ganzen Schinken zunächst das Bein abgesägt gehört, und so steht es ja auch im Standardwerk „Fleisch“ vom „Bundesausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung“. Es ist von 1968, auf dem Titel hat es einen Rollbraten mit Petersilie und Pilzen (aus der Dose). „Heute“, sagt Corinna Schirmer, „wird der Prozess der Schlachtung nicht mehr visualisiert.“ Töten ist tabu, man kauft jetzt ein fertiges Filet in Folie.
Gerade wollte man noch fragen, was Fleisch mit Wissenschaft zu tun haben soll und was ein saftiges Kotelett in der Forschung zu suchen – aber es reicht ja schon der Blick auf Davidis und Dr. Oetker, um nur diese beiden von 14.000 im Dortmunder Bestand zu nennen. Da hängt auf dem alten Buch eine ganze Gans im Traubenkranz, und drinnen steht „Braunes Kalbskopfragout für den täglichen Tisch“. Auf dem neueren Werk ruht rotes Steak an Basilikum, darin locken „Knusprige Lammtaler“ und „Gefülltes Hähnchenbrustfilet mit Möhren-Couscous“. Und da sagt die Kulturanthropologin Schirmer, Ernährung sei ein „soziales Totalphänomen: Jeder muss essen“.
Von Omas Sonntagsbraten zum Lieferdienst
Das Fleisch auf dem Tisch sei „immer ein Indikator für den gesellschaftlichen Wandel“ gewesen. Im 19. Jahrhundert so selten, dass das Essverhalten fast vegetarisch war, nach dem Krieg so teuer, dass es allenfalls am Sonntag serviert wurde, heute womöglich „Chiffre für Umweltzerstörung, Tierleid, Fehlernährung“, so die Projektthese. Was den Deutschen dazu bringt, über seine mehr als 60 Kilo Fleisch pro Jahr inzwischen besser nachzudenken: Fleisch zu essen, sagt Schirmer, habe einen negativen Beigeschmack bekommen, das Nahrungsmittel werde in der Wahrnehmung wieder wertiger.
Was sich in den Jahren aber alles verändert hat! Einst der Sonntagsbraten, heute lieber die Bestellung beim Lieferdienst. Damals „Man nehme Salz“ im Buch, heute Chefkoch.de im Internet. Damals die Familie artig um den Tisch mit allerlei Sorten Besteck, heute auf halb acht vorm Fernseher oder gleich unterwegs. Einst war Kochen notwendig, heute ist es eher Kunst, Freizeitbeschäftigung als täglich angewandtes Wissen. Man kann das herauslesen aus den Kochbüchern, „es steht hier ein Schatz in den Regalen“, frohlockt Schirmer, vom ABC der Küche über das Lexikon der Kochkunst, „Kochen für 3“, „Kochen wie ein Profi“, „Billig, schnell und schmackhaft kochen“, aber, tatsächlich, auch das: „Großer Hans liebt Schweinebacke“.
„Toast Hawaii“ als Hit der 70er
800.000 Euro für die Fleisch-Forschung
Fünf Forschungseinrichtungen sind an dem Projekt „ Verdinglichung des Lebendigen. Fleisch als Kulturgut“ (kurz „Fleischwissen“) beteiligt: neben dem Deutschen Kochbuchmuseum in Dortmund die Universität Regensburg, die Hochschule Fulda, das Institut für Sozialinnovationen in Berlin und das Landschaftsmuseum Westerwald.
Die Forschungen laufen bis 2021 und werden mit insgesamt 800.000 Euro vom Bundesforschungsministerium gefördert. Die Teilsumme für das Deutsche Kochbuchmuseum und Corinna Schirmer beträgt etwa 145.000 Euro.
Kochbücher, sagt Corinna Schirmer, waren immer „der Wissensspeicher ihrer Zeit für den Alltagsgebrauch“. Sie waren „Ratgeber für den Haushalt“, heute seien sie spezifischer: Da gibt es das „Grillbuch“ oder die Rezeptsammlung für alleinerziehende Väter. Aber sie sind auch Geschichtsbücher auf ihre Art: Wer hätte gewusst, dass Corned Beef zur vorvorigen Jahrhundertwende so beliebt war, weil es in der Konserve haltbar blieb? Dass das „Toast Hawaii“ zum Hit wurde, weil es aus Pressschinken war (neu!), mit Ananas von weit weg (exotisch!) und Brot in Kastenform (modern!). Heute ist „Hawaii“ ja aus denselben Gründen allenfalls noch aus Nostalgie beliebt.
Viele wollen das wissen: Fleisch-Forscherin ist keine Vegetarierin
Das Kochbuchmuseum ist derzeit „nur“ Bibliothek statt Dauerausstellung, es riecht nach altem Papier und keinesfalls nach Essen. „Mühsam nährt sich das Eichhörnchen“, sagt Schirmer (natürlich nicht von Fleisch). Besonders liebt sie die vielen Auflagen von Henriette Davidis, blättert seit November durch die alten, Verzeihung, Schinken. Dabei tut es nichts zur Sache für die Wissenschaft, ist aber eine oft gestellte Frage: Nein, sie ist keine Vegetarierin.
Es ist ihr ein Bedürfnis, dass ihre Forschung Bildung vermittelt: „Kühe sind nicht lila, Fleisch kommt nicht aus viereckigen Packungen, am Anfang steht ein Tier!“ Und damit die Frage: Ab wann wird dieses Tier eigentlich zum Produkt? „Verdinglichung“ heißt das im Forschungstitel. Darüber, übrigens, denkt man offensichtlich nicht erst seit heute nach. In einem Schrank steht das Buch „Die Küche der Zukunft auf fleischloser Grundlage“. Von 1927! In der Kartei liegt die zugehörige Karte weit entfernt vom Wälzer „Fleisch“ von 1994, zwischen „Fette und Öle“, „Fisch“ und „Frauenbild“. Aber Letzteres ist ein anderes Thema aus der Reihe „Gesellschaft im Wandel“.