Bochum. Ungerechtfertigte Polizeigewalt kommt einer aktuellen Studie zufolge deutlich häufiger vor als bislang bekannt. Das Dunkelfeld ist enorm groß.
Unrechtmäßige Polizeigewalt kommt deutlich häufiger vor, als bisher bekannt. Zu diesem vorläufigen Ergebnis kommt die bislang größte Untersuchung zur Polizeigewalt in Deutschland an der Ruhr-Universität Bochum. Das Dunkelfeld sei mindestens fünfmal so groß wie die bekannten Fälle, erklärte der Kriminologe und Studienleiter Tobias Singelnstein dieser Zeitung. Bei rund 2200 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten wegen Gewaltdelikten im Jahr wären das etwa 11.000 Fälle. Jedoch erzeugt diese hohe Zahl einen falschen Eindruck – auch aus Sicht des Forschers.
Gewalt gehört zum Beruf des Polizisten, im Einsatz muss sie oft gezielt eingesetzt werden. „Es würde an ein Wunder grenzen“, erklärt der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Ruhr-Uni Bochum, wenn dabei nicht auch mal ein Schlag zuviel gesetzt würde, wenn Polizisten Gewalt nicht auch mal ungerechtfertigt einsetzen würden. „Das Hauptproblem ist, dass die Polizei sich damit nicht hinreichend auseinandersetzt“, sagt Singelnstein. Dazu forscht er seit rund 15 Jahren. Sein aktuelles Projekt wird die größte Studie zu ungerechtfertigter Polizeigewalt in Deutschland sein – schon vor ihrer im September geplanten Veröffentlichung beherrscht sie die Schlagzeilen.
Wie hoch ist die Polizeigewalt wirklich?
Das ARD-Politikmagazin Kontraste und der Spiegel haben vorab von ersten Ergebnissen berichtet, die Zahl von „12.000 mutmaßlich rechtswidrigen Übergriffen durch Polizeibeamte“ steht im Raum. Dies ist bei näherer Betrachtung irreführend. Tatsächlich hatte der Professor gesagt: „Nach unseren bisherigen Befunden kann man davon ausgehen, dass das Dunkelfeld mehr als fünfmal so groß ist wie das Hellfeld, das wir in der Statistik sehen.“
Doch Singelnstein hält es im Gespräch mit dieser Zeitung für „unwissenschaftlich“, die Zahl der Ermittlungsverfahren einfach mit fünf zu multiplizieren. (Sie schwankt überdies, 2017 waren es weniger als 2200 Fälle, womit die Hochrechnung eher bei 11.000 als bei 12.000 landet).
Zudem ist die Zahl der Ermittlungsverfahren nicht ohne Weiteres gleichzusetzen mit „mutmaßlich rechtswidrigen Übergriffen durch Polizeibeamte“. Dies ist zwar formal korrekt, doch nur weniger als zwei Prozent landen vor Gericht, im Gegensatz zu rund zwanzig Prozent bei „normalen“ Körperverletzungen. Polizeigewerkschaften betonen stets, dass viele Anzeigen gegen Polizisten gestellt werden, um von eigenen Vergehen abzulenken. Jedenfalls endet nur weniger als ein Prozent der Verfahren mit einer Verurteilung. Es gibt also nur rund 20 Fälle nachgewiesener ungerechtfertigter Polizeigewalt pro Jahr. Bei einem fünfmal so großen Dunkelfeld müsste man also von rund 100 Fällen in Deutschland ausgehen.
Gruppen mit „geringer Beschwerdemacht“
Viele Fälle, sagt Singelnstein allerdings, kämen nicht zur Anzeige, da die Betroffenen Angst hätten zur Polizei zu gehen oder keine Erfolgsaussichten sehen. Auch stellen Staatsanwälte seiner Einschätzung nach zu viele Verfahren ein und Gerichte entscheiden zugunsten der Beamten, weil sie eher Polizisten glauben. Hier sieht Singelnstein ein Problem, denn oft stehe das Wort der Bürger gegen das der Beamten. Und diese „rangierten in der Glaubwürdigkeitshierarchie weit oben. Sie sind jedoch in diesen Fällen keine neutralen Beobachter.“ Diese Effekte beziffert der Kriminologe jedoch nicht in der Studie.
Die Dunkelziffer-Aussage beruht auf einer Online-Befragung von mehr als 1000 mutmaßlich Betroffenen. Zudem führt das Forschungsteam derzeit Interviews unter anderem mit Staatsanwälten, Richtern und Polizisten