Ruhrgebiet. . Der Verein „Mentor“ will, dass Kinder lesen und das Lesen lieben lernen. Ehrenamtliche gehen in Schulen. Die Schüler nehmen aber noch mehr mit.

„Schwiegen Wörter.“ Die Zehnjährige kriecht fast in den Text, mit dem Zeigefinger pult sie die Bedeutung aus den Buchstaben. Es schwiegen die Wörter? Das steht da nicht, aber trifft es doch: Dem Mädchen sagen diese Wörter nichts; es kennt sie nicht, deshalb kann es sie nicht lesen. Aber dafür gibt es Paula, die Leselernhelferin (er-)kennt die Wörter, auch die „schwierigen“.

Der Unterricht ist längst vorbei, das Klassenzimmer der 4a verwaist, aber da sitzen sie noch: Paula, 22, Studentin der Betriebswirtschaftslehre, keine Lehrerin, aber eine, die gern liest. Und die kleine Tamilin, deren Namen ihre Eltern lieber nicht in der Zeitung lesen wollen. Wobei, lesen: „Meine Eltern können nicht richtig lesen“, sagt das Kind, das „drei, vier Bücher“ zuhause hat und einen kleinen Bruder, der an den Seiten reißt. Vielleicht können Mama und Papa die Sprache nicht lesen nach fünf Jahren in Deutschland, vielleicht nicht die lateinische Schrift, vielleicht überhaupt nicht, aber darum geht es auch nicht: Ihre Tochter jedenfalls soll das Lesen lernen, sie soll es sogar lieben lernen, sagt der Verein „Mentor“.

„Lesekompetenz ist die Basis von allem“

Der schickt seit 2003 ehrenamtliche Leselernhelfer in die deutschen Schulen, seit 2007 von Bochum aus auch im Ruhrgebiet und seit einem guten Jahr in Dortmund. 160 Menschen haben sich seither gefunden, die einmal in der Woche eine Stunde Zeit herschenken, um mit einem Kind zu lesen. Oder zu sprechen oder zuzuhören, jedenfalls an seinem Wortschatz zu bauen. Es soll „eine fröhliche Stunde“ sein „ohne Druck“, sagt die Bochumer Vereinsvorsitzende Heidrun Abel. „Lesekompetenz“, glaubt ihr Kollege Helmut Jüngst in Dortmund, übrigens ein Ingenieur, „ist die Basis von allem.“

Allein, für viele Kinder ist Lesen nicht mehr Lust, sondern Frust. Studien wissen: Zwar liest noch jedes zweite Mädchen gern mal ein Buch, bei den Jungen schon nur noch jeder dritte, fast jeder fünfte Jugendliche aber liest nie. Weil ihn nie jemand auf den Geschmack brachte, oft aber auch: weil er es nicht kann. „Erschütternd zu hören“, sagt eine Grundschul-Lehrerin, „wie manche im 4. Schuljahr lesen.“ Das liegt auch an Sprachproblemen, mehr aber an gesellschaftlichen, sagen Mentoren: an Eltern, die wenig Zeit haben vorzulesen und Lesen vorzuleben, daran, dass Kinder Bücher gar nicht mehr kennenlernen oder in der Schule nur als „Muss“. „Manchmal“, sind sich Leselernhelfer in Dortmund einig, „sind wir für ein Kind die einzige positive Bezugsperson.“

In der Kinderzeitung steht auch, wie das Wetter wird

Auch Paula sieht sich als „jemand, der für das Kind da ist und Zeit mit ihm verbringt“. Heute hat sie mit dem kleinen Mädchen über Notre-Dame gesprochen, es war in den Osterferien in Paris, und in der Kinderzeitung stand die Nachricht von dem großen Feuer. So hat die Schülerin heute gelernt, dass man aus einer Zeitung auch Informationen holen kann, das Wetter steht auch drin. Und ein Artikel über Förster, Schädlinge und Tannen, die gefallen, ach nein, gefällt werden – die Zehnjährige sieht gerade den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Deshalb gibt es die Liste der „Schwierigen Wörter“ auf der nächsten Seite, die rechte Hand hält sich daran fest, die linke knüllt das Taschentuch, „manchmal“, sagt das Kind, sei das Lesen „anstrengend“. Mit gefurchter Stirn begegnet es einem CH, „was war das noch“? Ach ja, es macht einen Ach-Laut tief in der Kehle, aber da steht dieses CH in „wachsen“ und ist hörbar also ein K. „Nicht raten, lesen!“, mahnt Paula und lächelt freundlich. Auf dem Stundenplan an der Wand steht für heute eine Stunde Deutsch, zwischen Geometrie und Englisch. „Wo war ich?“, fragt das Kind und liest im nächsten Satz das Zeichen mit: „Punkt!“

In der Bücherkiste warten Jim Knopf und kleiner Vampir

Weil es jetzt müde ist und schon bald zwei, fangen sie das Buch nicht mehr an, das Paula in ihrer Tasche hat. Und gucken auch nicht in die Kiste oben in der Bibliothek: Da ist die „Leseratte“ drin, ein „Leserabe“ und ein „Satzbaumeister“, aber neben allem Lernspielzeug warten auch „Der kleine Vampir“ und „Jim Knopf“ oder „Kaspar, Opa und der Monsterhecht“. Apropos Opa: Schulleiterin Ulrike Poppinga sagt, die Leselernhelfer seien ein „Generationenprojekt“. Viele der Mentoren sind Rentner, schon vom Alter her Menschen, „die noch lesen“, die wissen, wie es ist, wenn man sich selbst und seine Sorgen in einer Geschichte verliert.

Was sie beobachten, wenn sie „ihre“ Kinder begleiten, manchmal bis zum Berufskolleg, ist neues Wissen, neuer Mut auch: Schüler, die selbstbewusster werden, die sich trauen, vor der Klasse vorzulesen, und andere, die fragen, wo sie sich bewerben können. „Die wollen das auch.“

Dabei sagt Paula: „Ich bin keine Nachhilfe.“ Es geht nicht darum, Noten zu verbessern. Aber wenn Wörter nicht mehr „schwierig“ sind, wenn sie nicht mehr schweigen, sondern reden vom Papier, dann hat auch kein Lehrer etwas dagegen.

>>INFO: AUCH DER WESTEN DES REVIERS BRAUCHT MENTOREN

„Mentor“-Vereine gibt es inzwischen in neun Städten des Ruhrgebiets, neben Dortmund etwa in Gelsenkirchen, Herne, Hattingen, Witten oder Bochum, wo „Mentor-Ruhr“ einst angefangen hat. Rund 1200 Leselernhelfer arbeiten ehrenamtlich mit Kindern, 11.500 Mentoren sind es bundesweit, die 15.000 Schüler an 1750 Schulen betreuen.

Im Westen des Reviers hat das Projekt noch nicht Fuß gefasst. Das Netzwerk Mentor-Ruhr sieht aber auch in Oberhausen, Essen, Mülheim, Duisburg Bedarf – und hilft neuen Vereinen gern: Netzwerk Mentor-Ruhr in Bochum, Telefon: 0234-89 01 31 39,
Mail: info@mentor-ruhr.de

Mehr Informationen: www.mentor-bundesverband.de