Münster/Hattingen. . Ein Jahr lebte und arbeitete die Physikerin Raffaela Busse in einer einsamen Forschungsstation am Südpol. Zurück in Deutschland zieht sie Bilanz.

Sie hat gearbeitet, wo andere nicht mal Urlaub machen. Wo eine Nacht sechs Monate dauert und Temperaturen um minus 20 Grad Hochsommer bedeuten. Raffaela Busse aus Hattingen war, wo noch nicht viele Menschen waren: am geografischen Südpol. Nicht nur ein paar Tage, sondern gleich ein Jahr hat die junge Physikerin der Universität Münster dort in der US-amerikanischen Amundsen-Scott-Station ein Forschungsprojekt betreut, bei dem Sensoren tief im ewigen Eis nach sogenannten Neutrinos suchen.

So viel hat die 28-Jährige erlebt in den vergangenen Monaten, dass sie lange überlegt hat. Wo soll sie anfangen, wo aufhören zu erzählen? Dann hat sie am Computer eine Präsentation erstellt. „Um mal die wichtigsten Fragen zu beantworten.“

Suche nach Neutrinos

Nun steht sie im Zimmer von Uni-Sprecher Norbert Robers im Münsterschen Schloss und klickt sich durch ihre Bilder, zeigt eine Landschaft, „flach, weiß und endlos, aber ohne Strukturen“. Faszinierend, aber unwirtlich. Einer der dunkelsten und stillsten Orte der Erde. Mit der saubersten Luft auf dem Planeten. Deshalb haben die Amerikaner schon seit Mitte der 1950er-Jahre dort Forschungsstationen gebaut. Die jüngste erst 2003.

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Dort suchen Wissenschaftler aus aller Welt nach Neutrinos, elektrisch neutralen Elementarteilchen mit sehr geringer Masse. Verschiedene Typen gibt es davon, die einen ganz oft, andere sehr selten. Interessant sind natürlich die sehr seltenen.

Um sie zu entdecken, haben Forscher am Pol eine Art Super-Teleskop eineinhalb Kilometer im Eis versenkt. „IceCube“ – Eiswürfel – nennen sie es etwas verniedlichend. Denn „IceCube“ ist ein Block mit mehr als einem Kubikkilometer Raum und bestückt mit über 5000 und kugelförmigen Detektoren, die auch an der Uni Münster mitentwickelt wurden.

Wieder zurück in Deutschland: Raffaela Busse
Wieder zurück in Deutschland: Raffaela Busse © Ralf Rottmann

Oben drüber werten 100 Computer die Daten aus, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Und für die war Busse zuständig. Rund um die Uhr, fast 365 Tage im Jahr. „Wenn irgendwo ein Fehler aufgetreten ist, musste ich los.“ Was einfacher klingt, als es ist. Die junge Frau wirft ein Foto an die Wand: zwei dicke Hosen, zwei dicke Jacken, vier Paar Strümpfe, vier Paar Handschuhe sind darauf unter anderem zu sehen. „Nur dass wir uns verstehen“, sagt sie. „Das waren keine Wahlmöglichkeiten, das musste ich jedes Mal alles anziehen, wenn ich ins Freie musste.“

Selbst so dick eingemummt, gibt es Gefrierbrand, wenn man zu lange draußen ist. Lässt sich nicht verhindern, erwischt nahezu jeden. „So lange die betroffenen Körperteile weiß sind und enorm weh tun“, hat sie schnell gelernt, „ist alles nicht schlimm.“ Schlimm ist schwarz und ohne Gefühl. „In diesen Fällen muss vielleicht sogar amputiert werden.“ Ist aber niemandem passiert in ihrem Jahr.

Duschzeit ist begrenzt auf vier Minuten in der Woche

Busse ist trotzdem sogar öfter raus, als sie gemusst hätte. Um Polarlichter zu sehen, aber auch einen Sonnenaufgang, der eine Woche dauert am Pol. „Fantastische Anblicke“, schwärmt sie noch heute. Außerdem war die zierliche junge Frau ein sogenannter „Fuelie“, war zuständig dafür, die schweren Hercules-Flugzeuge einzuweisen, die das Benzin bringen, um das Kraftwerk der Station zu beheizen.

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Die Schläuche zum Abzapfen hat sie eingehängt, während die schweren Rotoren der Flieger nur ein paar Meter neben ihr weiterliefen, weil man sie nicht abstellen darf in der Kälte. Und wenn der Sprit in den Tanks war, musste sie die langen Leitungen überprüfen im Lager. „Aber da“, sie meint das nicht ironisch, „herrschen angenehme 50 Grad unter Null.“ Draußen: bis minus 75.

Freiwillig hat sich Busse für diesen Job gemeldet. Extra-Geld gab es nicht, aber immerhin zusätzliche Duschminuten. Die sind nämlich stark begrenzt am Pol. „Vier Minuten“, sagt sie. „In der Woche.“ Denn um Eis zu Duschwasser aufzutauen, verbrauche man extrem viel Energie.

Von Lagerkoller keine Spur

33 Männer und sieben Frauen haben am Pol überwintert. Die Jüngste 23, der Älteste 75 Jahre alt. In den Monaten, in denen nichts Schlimmes passieren darf, weil niemand sie erreichen kann. Ja, man kann mailen, vielleicht anrufen, das heißt aber nicht, dass ein Flugzeug kommen kann. „Doch das weiß man ja vorher.“

Die 28-Jährige vor einem Foto der Forschungsstation
Die 28-Jährige vor einem Foto der Forschungsstation © Ralf Rottmann

Von einem Lagerkoller, sagt Busse, habe sie jedenfalls nichts gespürt. Klar, Familie und Freunde haben manchmal gefehlt, und „natürlich gab es Augenblicke, da hat mich einfach alles genervt – wie jemand isst, wie ein anderer lacht. Einfach alles.“

Schnee von gestern. Vor allem in der Antarktis. „Dort verändert man sich“, sagt Busse. „Geduldiger“ sei sie geworden, irgendwie „gelassener“. Und erstaunlicherweise auch ein Stück weit empathischer. „Man lernt sich selbst besser kennen“, fasst die Doktorandin zusammen. „Und beginnt anders über die Welt zu denken.“ Vielleicht auch, weil man dort an vieles nicht denken muss.

Schwierig, sich in Deutschland wieder einzufinden

Sie habe „echte Schwierigkeiten gehabt, sich in Deutschland wieder einzugewöhnen“. „Auf der Station war das Leben so simpel, hier muss ich mich wieder um alles selber kümmern.“ Ein bisschen was aber hat sich Busse hinübergerettet in ihr neues, altes Leben. „Ich habe am Pol gemerkt, wie viele Dinge man nicht braucht“, sagt sie. „Zurück in Hattingen habe ich erst einmal ausgemistet.“

Mittlerweile bereitet sich Raffaela Busse in Münster auf ihre Doktorarbeit vor. „IceCube“ wird das Thema sein. Und dann? Kann man ein Jahr im Ewigen Eis noch toppen? Busse lächelt, nickt. Vielleicht wird sie sich noch einmal bewerben für ein zweites Jahr auf der Station. Vielleicht geht es aber auch hoch hinaus. Ganz hoch sogar. „Irgendwann“, verrät Busse, „würde ich gerne mal in den Weltraum fliegen.“