Essen. . Tagung in Essen zur Clan-Kriminalität: Ein Drittel der 14.225 Straftaten sind Gewaltverbrechen. Polizisten berichten vom Frust auf der Straße.

Raub und Körperverletzung, deshalb hatte er ihn festgenommen; auf dem Gerichtsflur traf der Kommissar den Mann wieder. „Ich mach’ dich fertig!“, schrie der Angeklagte, beleidigte den Polizisten, bedrohte ihn. Dann kam der Richter: „Sie wissen doch, wie er ist. Er reagiert immer so.“ Der 26-jährige Hundertschaftsbeamte stand fassungslos da, „traurig“, sagt er sogar. Da fährt nun das Land seine „Null-Toleranz-Strategie“ gegen Clans, „und wir würden alles dafür tun, aber uns fehlt die Unterstützung“. Man kann es auch so sagen wie sein Kollege, 31: „Wir riskieren unseren Hals, und dann kriegen wir vor Gericht einen Arschtritt.“

Es gibt Redebedarf unter denen, die im Land gegen die sogenannte „Clan-Kriminalität“ vorgehen, und dafür ist diese Tagung in Essen da. Nach über 100 Razzien seit dem vergangenen Sommer gegen Mitglieder von Großfamilien, denen das Recht der Straße mehr gilt als das des Staates, nach mehr als 1000 durchsuchten Objekten, über 100 Festnahmen und 60 geschlossenen Shisha-Bars hat der Innenminister 400 Behördenvertreter eingeladen, um genau das zu tun: zu reden. Über Geldwäsche, Drogenhandel, Prostitution, Schutzgelderpressung, Steuerbetrug, die sogenannten „Tumultdelikte“ (einer verunfallt, 100 eilen, ihn zu rächen). Es kommen mehr als 560, Polizisten die meisten, viele glitzernde Sterne auf den Schultern.

„Fresse halten. Du bist tot!“

Aber auch die jungen Kommissare aus Essen, die vor Fotos sichergestellter Luxuskarossen vom „Carposing“ erzählen sollen und von ihren Einsätzen in Gegenden, die mancher „No-Go-Areas“ nennt. „Du hast die Fresse zu halten! Ich kann mit dir machen, was ich will!“ (Fahrzeugkontrolle, Januar 2019) „Alter, wie redest du mit meinem Vater? Du bist tot!“ (November 2016) „Ihr habt mir nichts zu sagen. Ihr seid weder meine Mutter, noch mein Vater, noch mein Bruder!“ (Dezember 2018)

Auch in Bochum wird eine Shisha-Bar überprüft. 60 sind allein im Ruhrgebiet in den vergangenen Monaten geschlossen worden.
Auch in Bochum wird eine Shisha-Bar überprüft. 60 sind allein im Ruhrgebiet in den vergangenen Monaten geschlossen worden. © Svenja Hanusch

Die Familie. An die 100 solcher Clans sollen es sein in NRW, bislang war die Polizei von rund 50 ausgegangen. Ihre undurchsichtigen Strukturen, ihren bedingungslosen Zusammenhalt zu verstehen und aufzubrechen, sagen die Experten, sei das Schwierige an dieser Form der Organisierten Kriminalität. „Der Clan ist Heimat“, sagt Essens Polizeichef Frank Richter. Der Clan ist „Überlebensstrategie“, sagt der Juraprofessor Mathias Rohe.

Wohnung in Gelsenkirchen, Verbrechen in Duisburg

Zu lange habe man den einstigen Flüchtlingen, meist aus dem Libanon, klargemacht, „dass man sie hier nicht haben will“. Davon müsse man nicht kriminell werden, sagt Rohe, „aber der Weg wird kürzer“. Der Staat werde als schwach verachtet, beobachtet die Polizei, der öffentliche Raum aggressiv beansprucht. Zudem, sagt Frank Richter, mache ein Familienverbund nicht an der Stadtgrenze halt: „Sie betrachten das Ruhrgebiet als ihr Gebiet. Sie wohnen in Gelsenkirchen, machen ihre Geschäfte in Essen, verabreden sich zu Straftaten in Duisburg.“

Wissenschaftler Rohe hat gerade bei den jungen Männern ein „ausgeprägtes Selbstbewusstsein, eine kurze Zündschnur, ein schlichtes Gemüt“ beobachtet. Das Lagebild der Polizei spricht aber auch von Disziplinlosigkeit in der Schule, von unterdurchschnittlichem Bildungsniveau. Auch deshalb setzt das Land auf Programme für Aussteiger, solche, wie es sie für Intensivtäter schon gibt. Wie das funktionieren kann, weiß noch niemand, auch nicht der Innenminister: „Einem, der die Rolex am Arm trägt, kann man keine Ausbildung zum Busfahrer anbieten.“

„1000 Nadelstiche“ verunsichern die Szene

NRW-Innenminister Herbert Reul bei einer Razzia gegen kriminelle Clans am 12. Januar in Essen.
NRW-Innenminister Herbert Reul bei einer Razzia gegen kriminelle Clans am 12. Januar in Essen.

Trotzdem ahnt Chefermittler Thomas Jungbluth aus dem Landeskriminalamt: „Wir können uns verschleißen mit den Clan-Chefs, aber das ist sehr mühselig. Wir müssen zwei, drei Ebenen darunter anfangen.“ Und von dort aus den „Mythos der Unangreifbarkeit zerstören“. Doch das dauert. Man sei erst am Anfang, das betonen sie alle. Nach 30 Jahren habe man eben erst begonnen, „nicht dass jemand meint“, mahnt Minister Reul, „morgen werde das Problem gelöst“. Man sei „in den ersten Minuten der ersten Halbzeit“, sagt Polizeipräsident Richter.

Die angekündigten „1000 Nadelstiche“ aber zeigten erste Wirkung. Die Verunsicherung, das hören die Ermittler aus der Szene, wächst. Mancher fürchtet um seine Geschäfte. Aber es gebe auch die Hoffnung, dass die Polizei nachlasse. „Die glauben, uns geht die Puste aus“, sagt eine Beamtin, „aber wir werden extrem langen Atem beweisen.“ Polizeichef Richter ist sicher: „Wir werden das austrocknen.“

Allein, die Lage auf der Straße wird härter. Davon erzählen die Hundertschaften, davon weiß auch Richter: Die Aggressivität gegenüber der Polizei sei gestiegen, es gebe Drohungen. Männer, die Polizisten nach Hause folgen. Die an ihren Privatwagen warten, einen „schönen Feierabend“ wünschen und sich lächelnd verabschieden: „Hoffentlich bleibst du auch gesund.“

>>JEDER FÜNFTE VERDÄCHTIGE IST WEIBLICH

Mitglieder krimineller Familien-Clans haben zwischen 2016 und 2018 in NRW mindestens 14.225 Straftaten begangen. Mehr als 5600 waren Gewalttaten wie Körperverletzungen, in 26 Fällen ging es um (versuchte) Tötungsdelikte. Festgestellt wurden 6449 Tatverdächtige, jeder fünfte weiblich.

Essen: 1227 Verdächtige

Recklinghausen (Kreis): 648

Gelsenkirchen: 570

Duisburg: 402

Dortmund: 399

Bochum: 378