Herne. . Fast die Hälfte der Jugendlichen in Herne fühlt sich missachtet, so eine Studie. Die Lehrer einer Hauptschule kämpfen um jeden Schüler.

„Ich war ein ungewolltes Kind“, sagt Patrick*. „Ein Vaterkind, aber dann ist er auf einmal weg gewesen. Ich war acht, als ich erfahren habe, wie er war. Mittlerweile meldet sich mein Vater nicht einmal mehr zu meinem Geburtstag.“ Der 14-Jährige wählt seine Worte bedacht, muss weinen, hat sich schnell unter Kontrolle – einer, der früh erwachsen werden musste. „Ich habe mich dann im Unterricht nur noch auf den Tisch gelegt.“ Patrick ist auf die Hauptschule gekommen, auf die Hans-Tilkowski-Schule in Herne. Das war wohl sein Glück. Die Lehrer haben ihm Angebote gemacht, immer wieder. „Irgendwann habe ich eingesehen, dass ich sprechen muss.“

Das tun wir heute. Wir sitzen mit vier Schülern und zwei Lehrern beisammen, um über Missachtung zu reden und darüber, was Schule leisten kann. Denn eine Umfrage des Sozialwissenschaftlers Klaus Peter Strohmeier von der Ruhr-Uni Bochum an allen Herner Schulen hat dramatische Verhältnisse aufgezeigt: 44 Prozent der Neuntklässler fühlt sich nicht wohl, missachtet und von Lehrern, Eltern und Mitschülern nicht anerkannt – stadtweit. An der Hans-Tilkowski-Schule, schätzen alle am Tisch einhellig, hat die Hälfte der Schüler ernste Schwierigkeiten zuhause.

Ein falsches Lächeln

„Die meisten verhalten sich normal“, sagt der Achtklässler Jonas*. „Aber wenn man genau hinguckt, sieht man, dass es ein falsches Lächeln ist. Oder die sind ganz ruhig, dann ist es noch schlimmer.“ Auch er redet wie ein Therapeut, kompetent aus eigener Erfahrung. Vielleicht hat die Schule ihm auch die analytischen Werkzeuge gegeben. Eva Müller (61), eine Lehrerin mit leuchtenden Augen, hat ihn zum Streitschlichter ausgebildet. Die Schule muss alle Kräfte nutzen, auch die der Schüler, sonst sind die Lehrer chancenlos.

Zum Konzept gehöre es, erklärt Müller, dass die Schüler in der Klasse über ihre Probleme sprechen. Damit die Mitschüler verstehen, warum es jemandem schlecht geht. „Wir lassen nicht zu, dass sich der eine über den anderen lustig macht“, sagt Rektor Lothar Heistermann. „Bei abfälligen Kommentaren geht die Lehrerin sofort dazwischen. Jeder soll mit Respekt behandelt werden, bis hin zur Reinigungskraft.“ Seine Vision sei eine „Wohlfühlschule“. Das habe mit Leistung zu tun. „Nur wer sich wohlfühlt, ist in der Lage zu lernen ... Jede Störung hat Vorrang.“

Das ist einfach gesagt und schwer umgesetzt. „Letztes Jahr kam eine Kollegin, die so viele Problemfälle in der Klasse hatte, dass sie Sorgen hatte, den Unterrichtsstoff nicht zu schaffen“, sagt Heistermann. Er empfahl ihr, Prioritäten zu setzen: „Die Kinder gehen vor. Sie war hinterher froh.“

„Jeder ist in seiner eigenen Welt“

„Es nimmt zu, dass Eltern sich einfach nicht kümmern“, berichtet Eva Müller. „Dass sie nicht anrufen, um ihr Kind zu entschuldigen. Wenn wir uns melden, geht keiner dran. Wir versuchen es mittlerweile per WhatsApp.“ – Warum? – „Viele gehen früh zur Arbeit, sind alleinerziehend. Ich führe es viel auf die digitale Welt zurück. Man kommuniziert weniger. Es herrscht eine Spracharmut. Jeder ist in seiner eigenen Welt.“

Zuweilen erreichen auch die Schule dramatische WhatsApp, berichtet der Rektor: „Ich werde gerade geschlagen. Helft mir!“ Es kam vor, dass ein Schulsozialarbeiter das Jugendamt informierte, das das Kind umgehend aus der Familie holte. Heimkinder gibt es in jeder Klasse. Oft müssen die Sozialarbeiter oder Lehrer auch die Eltern betreuen. Sogar in Scheidungsangelegenheiten. Manchmal stellt die Schule den unverfänglichen Raum für ein Treffen der geprügelten Mutter mit einer Beratungsstelle.

„Die Lehrer rufen auch zuhause an“, sagt Nikola* aus Stufe zehn, „sogar wenn sich Eltern und Lehrer anschreien, machen die Lehrer weiter, als wenn es ihre eigenen Kinder wären.“

„Bei mir wurden vor sechs Jahren Depressionen entdeckt“, sagt ihre Freundin Maria*. „Ein Junge hat mich oft gefragt, ob alles okay ist.“ Es ist wohl der Gesprächskultur der Schule zu verdanken, dass der Mitschüler die Lehrerin aufmerksam machte. Man müsse Freundschaften stärken, das Soziale in den Kindern stark machen, sagt Heistermann. „Man muss helfen, den Schülern ein Netz zu flechten, in das sie fallen, auch wenn die Schule nicht mehr da ist.“

In jeder Klasse verletzen sich zwei, drei Schüler selbst

Als Eva Müller berichtet, dass das „Ritzen“ grassiert, dass zwei, drei Schüler in jeder Klasse sich selbst verletzen – da bricht es aus Maria hervor. „Ich habe auch dazu gehört.“ Es sei ein Missverständnis, dass Ritzen ein Hilferuf sei, sagt sie: „Der körperliche Schmerz übertönt den psychischen Schmerz. Man ist endlich leer im Kopf. Und das kann süchtig machen.“ Sie schneide sich nicht mehr in den Oberschenkel, seitdem sie sich selbst Piercings mit Nägeln sticht.

Die vier gehören zum Kreis der „Geretteten“, streben das Abitur an. Patrick will „Mediziner oder Psychologe“ werden. „Im Inneren bin ich so dankbar dafür, dass mir geholfen wurde.“ Jonas sieht sich als Erzieher, Nikola als Lehrerin – alle aus den gleichen Gründen. Nur Maria schlägt aus der Reihe. „Astrophysikerin“ will sie werden – und warum auch nicht?

>> Info: „Die Probleme haben alle Städte“

Der Studienautor Klaus Peter Strohmeier betont, dass Herne für die Schülerbefragung auswählt wurde, weil die Stadt bereits „eines der überzeugendsten integrativen Bildungskonzepte“ (Lernen vor Ort) etabliert hatte und es eine gute Kooperationskultur zwischen Stadt und Schulen gebe. Herne verfolge das Ziel, der Ausgrenzung entgegenzuwirken und die Bildungsbeteiligung zu erhöhen.

Die Studie bedeute keine Kritik an Lehrern, Schulen oder Stadt, sondern habe Kinder nach ihrem Befinden in Schule und Familie befragt. „Die Probleme haben alle Städte“, betont Strohmeier. „Aber Herne hat den Mut, sie engagiert anzugehen.“