Essen/Werl. . Vor 75 Jahren griffen britische Bomber Talsperren im Sauerland an, um die Rüstungsbetriebe lahmzulegen. Die Flutwelle erreichte das Ruhrgebiet.
Das Feuer, das vom Himmel fällt, das kennen die Menschen im Ruhrgebiet im Frühjahr 1943. „Lufthart“ nennt man sie, weil sie seit Anfang März beinahe jede Nacht das Ziel alliierter Bombenangriffe sind. Mit allen Mitteln soll die „Waffenschmiede des Reichs“ zerstört werden. Doch die Nacht vom 16. auf den 17. Mai bleibt ruhig. Kein Bomber kommt. Dafür kommt im Morgengrauen das Wasser. Die Briten haben den Damm des Möhnesees angegriffen und zerstört.
Im Sauerland liegt das riesige Wasserreservoir. Dort ist vom Krieg bisher nicht viel zu spüren gewesen. Entspannt haben die Menschen bei sommerlichem Wetter den Muttertag gefeiert. „Wir haben uns völlig sicher gefühlt“, sagt der Heimatforscher Helmuth Euler, damals neun Jahre alt. Auch die Militärs schätzen das Risiko eines Angriffs anscheinend gering ein. Fesselballons sind abgebaut, in den ausgedünnten Geschützstellungen ist es so ruhig, dass die Soldaten sie „Flak-Sanatorium“ nennen. Es ist eine trügerische Ruhe. Es ist die Ruhe vor der Flut.
Bomben sprangen über das Wasser
Denn am Abend des 16. Mai schrauben sich in England 19 Lancaster-Bomber in den wolkenlosen Himmel. Sie lassen das Ruhrgebiet ausnahmsweise rechts liegen, nehmen Kurs auf die Talsperren im Sauerland. Neun von ihnen erreichen gegen Mitternacht im Tiefflug die Möhne. An Bord haben sie eine neu entwickelte Bombe. Wie ein flach geworfener Stein kann sie rückwärts drehend über die Wasseroberfläche springen und so die Fangnetze überwinden, um unversehrt an der Staumauer in die Tiefe zu sinken, dort zu explodieren und den Damm zu knacken.
Dafür muss sie aus 18,29 Metern Höhe, mit einer Geschwindigkeit von 354 Stundenkilometern, etwa 400 Meter vor dem Damm ausgeklinkt werden. „Unmöglich“, glauben selbst britische Experten. Doch nach monatelangem Training gelingt es über der Möhne im fünften Anlauf doch. „Es gab einen Knall und ein paar Sekunden später war schon ein großes Loch in der Mauer“, erinnert sich ein Augenzeuge. Knapp 77 Meter breit und rund 22 Meter hoch ist die Lücke, durch die nun 130 Millionen Kubikmeter Wasser aus dem randvoll gefüllten Stausee talwärts stürzen. „Es war ein unglaubliches Rauschen“, erinnert sich Euler .
Die Flut reißt alles mit, was ihr im Wege steht. Rund 1000 Insassinnen eines Gefangenenlagers direkt unterhalb der Staumauer sterben als erste in den bis zu zwölf Meter hohen Wassermassen. Auf ihrem Weg durch das Ruhrtal überfluten sie Dörfer, reißen Brücken weg und Menschen in den Tod. In Neheim oder Schwerte stehen ganze Ortsteile meterhoch unter Wasser.
Baldeneysee nimmt einen Teil der Fluten auf
Aber auch das Ruhrgebiet – obwohl weit weg – bleibt nicht verschont. In Witten etwa werden unter anderem weite Teile der Vereinigten Stahlwerke überflutet. 200 Menschen werden obdachlos. Im Raum Bochum werden die Bergleute Hals über Kopf aus den Gruben geholt. Erst unterhalb des Baldeneysees ebbt die Flutwelle nach rund 120 Kilometern langsam ab – vor allem weil der bereits 1941 abgelassene See dort einen Großteil des Wassers aufnehmen kann.
Rund 1600 Menschen verlieren in dieser Nacht ihr Leben, der Schaden geht in die Millionen. Die Menschen am Fluss, sie leiden auch in den nächsten Tagen und Wochen – selbst wenn sie nicht all ihr Hab und Gut verloren haben. Viele Wasser- und Elektrizitätswerke im Revier sind abgesoffen. Tausende Männer werden von ihren Tätigkeiten abgezogen, um zusammen mit Kriegsgefangenen die Schäden zu beseitigen. Und als in der Nacht auf den 24. Mai rund 800 britische Bomber den bis dahin schwersten Luftangriff des Krieges auf Dortmund fliegen, fehlt der Feuerwehr das Löschwasser.
Rüstungsschmiede ist nicht zerstört
Die „Rüstungsschmiede Ruhrgebiet“ ist aber nicht zerstört, sie gerät nur kurzzeitig ins Stocken weil Stahl-, Hydrierwerke und Kokereien die Produktion herunterfahren. „Den ganz großen Einbruch aber“, sagt der Hagener Historiker Ralf Blank, „hat es nicht gegeben.“ Und Anfang Oktober 1943 ist auch der Staudamm der Möhne repariert.
Die Briten feiern den Angriff trotzdem als großen Erfolg. „Die Deutschen trifft der Flutblitz“, titelt etwa der „Daily Mirror“ am 18. Mai und feiert die Piloten als Helden. Für viele in England sind sie das bis heute. Auch deshalb gibt es zum 75. Jahrestag des Angriffes Sondervorführungen des Spielfilms über die „Dam Busters“ (Dammbrecher). Aber das sei nur die eine Seite der Medaille, sagt Euler, der in den vergangenen Jahrzehnten regelmäßig auf die Insel gereist ist und nahezu alle Beteiligten der Operation getroffen hat.
617. Bomb Squadron wurde reaktiviert
Schon vor Jahren habe sich der britische Wissenschaftler Barnes Wallis, der die „hüpfende Bombe“ erfunden hatte, für die Folgen des Angriffs entschuldigt und bedauert, dass so viele Frauen und Kinder in den Fluten ertranken: „Darüber sei er „sehr traurig“. Es sei den Briten damals, habe Wallis erklärt, darum gegangen, den Krieg zu verkürzen.
Die 617. Bomb Squadron, die den Angriff flog und später auch die Tirpitz versenkte, wurde zwischenzeitlich aufgelöst, vor wenigen Wochen aber reaktiviert – mit anderen taktischen Aufgaben und brandneuen Tarnkappenflugzeugen. Das alte Motto der Staffel aber ist geblieben. „Aprés moi, le délug“: Nach mir die Sintflut.
Ausführliche Informationen über den Angriff auf die Talsperren gibt es in Helmuth Eulers Buch „Wasserkrieg“ (Verlag Motorbuch, ca 25 Euro)