Essen. Scharfschützen liegen an Deutschlands Autobahnen und zielen auf Neuwagen. Die unbekannten Täter haben bisher 248 Mal ins Blech getroffen. Jetzt ist erstmals ein Mensch ihr Opfer geworden, sagt das Bundeskriminalamt. Eine Sonderkommission fahndet bundesweit.

Scharfschützen liegen an Deutschlands Autobahnen, die Waffe im Anschlag. In Kreuzen. Neben Baustellen. Hinter Randstreifen. Sie zielen quer über den Verkehr, schießen auf die Fracht von Autotransportern. Immer auf Neuwagen. Immer mit Kaliber 22. Im Herbst 2008 ist das Phänomen aufgetreten. 248 Mal haben Unbekannte seither ins Blech getroffen, und nur im August haben sie auffälligerweise einen ganzen Monat Pause gemacht. Auch schießen sie nur von montags bis freitags. Jetzt ist erstmals ein Mensch ihr Opfer geworden, glaubt das Bundeskriminalamt. Der Ernstfall. Eine SoKo fahndet bundesweit.

Würzburg, A 3, 10. November. Vor dem Rasthof an der A3 herrscht in Fahrtrichtung Nürnberg Feierabendverkehr. In ihrem Skoda überholt die 40-Jährige aus dem sächsischen Bautzen einen Lkw, daran wird sie sich später erinnern. Dann: Blackout. Der Skoda schert nach links, schrammt 100 Meter die Mittelleitplanke entlang, bleibt liegen. Rettungskräfte bergen die schwer verletzte Frau. In der Würzburger Klinik wird sie notoperiert. Bei der Untersuchung entdecken die Chirurgen eine Kugel im Hals. Es war ein Anschlag. Wem galt er? Galt er überhaupt jemandem? Oder galt er metallic-lackiertem Blech?

"Ich hab ein Loch im Auto"

Essen, Helf GmbH. In seinem Büro in der Stauderstraße sitzt Alfred Walde. Der Geschäftsführer der Helf Automobil-Logistik GmbH, die 250 Mitarbeiter auf 100 Lkw im Einsatz hat und jährlich als eine der fünf Großen im Gewerbe 400 000 Neuwagen transportiert, erinnert sich gut an den 6. März des Jahres. Da rief sein Transporter-Fahrer - „ein alter Hase”, sagt Walde - aus Südfrankreich an: „Ich hab ein Loch im Auto”. Das Auto: Ein werksneuer Sprinter, huckepack geladen. Der Treffer: Seitenteil, links. Walde machte da zum ersten Mal die Erfahrung: Auf unseren Autobahnen wird geschossen. Autotransporter sind im Visier. Er hat noch, bis November, elf weitere Anrufe von seinen Fahrern erhalten. Walde ist wütend. Auf den oder, wahrscheinlicher, die Täter, „weil sie Leben gefährden” . Auch auf Behörden. Zu langsam, sagt er, hätten sie realisiert, dass es um mehr geht als einen Versicherungsschaden von 3000 Euro.

Wiesbaden, Bundeskriminalamt. Warum beschießt jemand neue Autos? Wer tut das? Die 20-köpfige „Sonderkommission BAB”, die es tatsächlich erst seit August gibt und wohl auch erst auf Druck der Wirtschaft, tappt im Dunkeln. Die Tatorte, A und O jeder Ermittlung, sind in diesem mysteriösen Komplex nicht immer zu lokalisieren. Ein Fahrer wie einer von Helf macht 500 Kilometer Strecke am Tag. Vielleicht bemerkt er erst am Abend, dass irgendjemand irgendwo auf der Tour seine Fracht abgeschossen hat. Das Kaliber ist - BKA-Jargon - „Massenware”. Jetzt muss man, Region Würzburg, drei weitere Einschläge zu den 245 bisher ungeklärten Fällen von Transporter-Beschuss addieren. Zwei Treffer meldet eine Spedition aus Cham, einer das Klinikum: Die Frau aus dem Skoda, die zum Glück nicht mehr in Lebensgefahr schwebt. Staatsanwälte in Würzburg sehen eine eindeutige Verbindung zwischen den Schießwütigen, die seit Herbst 2008 aktiv sind, und dem Unfallopfer vom 10. November. Erstmals gab es nicht nur Sachschaden. Fehlschuss? Querschläger? Vieles ist möglich. Endlich ermittelt eine Staatsanwaltschaft. Der Fall hat eine neue Dimension.

"Alle sind betroffen"

Bonn, Verein Automobillogistik. Ingo Hodea, der den Interessenverband führt, sammelt die Anrufe seiner dreizehn Mitgliederfirmen in dieser Sache. „Alle sind betroffen”, sagt er. Alle Firmen wurden beschossen, fast jeden Tag, auf fast allen Routen. Am Westhofener Kreuz bei Dortmund und am Kreuz Kerpen, auf A 3, Sauerlandlinie, zwischen Aachen und Kölner Ring. Vor allem am Rhein entlang und bei Transporten, die aus den großen Seehäfen kommen. Es sind Schwerpunkte, die auch das BKA nennt. Bei den Fahrern wachse die Sorge. „Wenn der Schütze sein Ziel verfehlt, kann es tödlich enden”. Wie beinahe in Würzburg. Wer so etwas macht? „Vielleicht”, sagt Ingo Hodea, „gibt es ein Baller-Spiel in der Realität?”

Essen, Helf GmbH. Überträgt jemand einen virtuellen Plot vom Bildschirm in den Alltag, ins deutsche Straßennetz? Alfred Walde ist eher skeptisch. Er hat nicht nur seine Fahrer gemahnt, im Verdachtsfall nicht auf eigene Faust zu recherchieren. Er macht sich Gedanken, wie die unbekannten Täter vorgehen: Sie schießen nur von der anderen Autobahnseite. Ausschließlich auf Neuwagen. „Dabei sind auf den Transportern auch Gebrauchte verzurrt”. Die Schützen können also unterscheiden, selbst auf die Entfernung, selbst bei dem Tempo. Da gehört eine Logistik dazu, eine Absprache zumindest. Vielleicht per Blog? Informieren sie sich gegenseitig, wenn ein Transporter mit 80 Stundenkilometern herandonnert? Walde schaut auf das schicke blaue Sattelschlepper-Modell in seinem Büro. „Die müssen wohl auf die Fahrerkabine zielen, um hinten auf der Ladefläche die Neuwagen zu treffen”, argwöhnt er. Es ist so ein Moment, wo er wieder Angst um die eigenen Leute hat. Unterwegs, fürchtet er, sind hier „Wahnsinnige”.

SoKo geht offensiver vor

Wiesbaden, Bundeskriminalamt. Die SoKo BAB geht in diesem November, ungefähr ein Jahr nach Beginn der unheimlichen Serie, offensiver vor. Zunächst wollte man verdeckt ermitteln, keinen Lärm machen wegen so einem kleinen Einschussloch. Die Versicherungen zahlen ja auch anstandslos. Doch die Strategie der stillen Post brachte wenig Fortschritt. Ein BKA-Hauptkommissar hat in diesen Tagen vor Spediteuren den Stand der Fahndung referiert. Nein, die Täter bevorzugen keinen bestimmten Neuwagen-Typ. Nein, auch keine bestimmte Spedition. Immer gibt es nur ein Loch pro Transport. Eine Schussabgabe ist aus einer Kurz- wie einer Langwaffe möglich, tendenziell von erhöhter Position. Und: Das vollständig aus Blei bestehende Geschoss verforme sich derart, dass keinerlei Systembestimmung mehr möglich sei.

Die heiße Spur fehlt.