Essen. Tote und Verletzte im Ruhrgebiet: Die Attacken mit Klingen scheinen auch aus Sicht der Polizei mehr zu werden. Eine Statistik aber gibt es nicht.

Der Anlass ist meist nichtig, das Ergebnis aber zuweilen tödlich. Im Januar ersticht ein 15-Jähriger einen 14-Jährigen in eine Lüner Gesamtschule. Vor wenigen Tagen erst stirbt ein junges Mädchen nach einem Streit in einem Parkhaus in Dortmund Hörde durch einen Stich ins Herz. Ein 19-jähriger Randalierer rammt einem Polizisten im Münsterland am Mittwoch die Klinge in den Bauch, als der Beamte einen Familienstreit schlichten will. Der 55-Jährige überlebt schwer verletzt.

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Immer öfter und immer schneller, so scheint es zumindest, greifen vor allem junge Leute zum Messer. Durch Zahlen belegen lässt sich das allerdings nicht. Denn Messerattacken werden von den meisten deutschen Polizeibehörden bisher statistisch nicht erfasst.

Gewerkschaft fordert eine Statistik

Sprecher der Polizei im Ruhrgebiet halten sich deshalb auch auf Nachfrage zurück mit ihren Aussagen. „Wir haben im Kollegenkreis in den vergangenen Wochen mehrfach darüber gesprochen“, sagt einer. „Gefühlt ist es tatsächlich mehr geworden. Aber beweisen können wir nichts.“

Natürlich erlaubt: ein Taschenmesser.
Natürlich erlaubt: ein Taschenmesser.

Das kann die Gewerkschaft der Polizei (GdP) auch nicht. Deshalb hat Arnold Plickert, Landesvorsitzender der GdP in Nordrhein-Westfalen jüngst auch einmal mehr eine „spezielle Messerstatistik“ gefordert.

„Die Verunsicherung der Bürger ist spürbar“

„Die Verunsicherung der Bürger ist regelrecht spürbar, weil kaum noch ein Tag vergeht, an dem nicht Polizeimeldungen über gefährliche oder sogar tödliche Messerattacken bekannt werden“, sekundiert der GdP-Bundesvorsitzende Oliver Malchow.

Und dann erzählt er, dass Streifenpolizisten ihm immer wieder berichtet hätten, gerade junge Männer zwischen 15 und 30 Jahren hätten immer öfter ein Messer dabei. „Es gibt eine Gruppe, die Konflikten nicht aus dem Weg geht und sagt: Das mache ich zur Not auch mit dem Messer“, glaubt Malchow.

Mancher fühlt sich sicherer

Dr. Claus-Rüdiger Haas, Ärztlicher Direktor der LWL-Klinik Marl-Sinsen für Kinder- und Jugendpsychiatrie, kann zwar nicht bestätigen, dass die Zahl der mit einem Messer bewaffneten Jugendlichen gestiegen ist. Aber er weiß: „Ein Messer zu haben, gilt als ‚cool‘. Man fühlt sich stärker und mächtiger.“

Und mancher, sagt die Polizei, fühlt sich angeblich auch sicherer mit einem Stück spitzem Stahl in der Tasche. In der Freizeit, aber selbst auch in der Schule.

„Höllisch gefährlich“

Gefährlich: Butterfly-Messer.
Gefährlich: Butterfly-Messer.

„In manchen Problemstadtteilen“, hat ein Polizeisprecher aus dem Revier gehört, „geht kaum noch jemand ohne Messer in die Schule. Die sind ja ganz leicht zu bekommen. Dafür muss ich nur in eine Küchenschublade greifen. Und wenn da kein Messer ist, liegt irgendwo in der Wohnung mit Sicherheit eine Schere oder ein Schraubenzieher.“ Und die mitzuführen, noch nicht einmal verboten.

Während die Zahl der mitgeführten Stichwaffen gefühlt gestiegen ist, ist die Hemmschwelle vieler Jugendlicher angeblich gesunken. „Man muss jetzt schon beim kleinsten Einsatz damit rechnen, dass einer ein Messer zieht“, sagt ein Streifenbeamter. Und Messer seien „höllisch gefährlich“. „Wer sich mit einem gezückten Stichwaffe einem Beamten nähert“, stellt ein Polizeisprecher dann auch klar, „muss damit rechnen, dass auf ihn geschossen wird.“

Fiktion färbt die Wahrnehmung

Zahlreiche einzelne Messerangriffe und eine große Verbreitung der Waffen ergeben allerdings noch keinen statistischen Trend. In Berlin etwa, wo Messerangriffe statistisch erfasst werden, ist die Zahl im vergangenen Jahr leicht zurückgegangen.

Das passt zu den Erkenntnissen, die Medienforscher wie Jo Groebel gesammelt haben. „Die subjektive Wahrnehmung hat sich geändert“, erklärt er. „Man kriegt ja immer mehr mit.“ Das kann Haas nur bestätigen. „Die Informationsflut ist um ein vielfaches größer geworden.“

In den klassischen Medien, vor allem aber in den sozialen Netzwerken. Er sei schon vor vielen Jahren aus seiner Heimat am Niederrhein weggezogen, sagt der 67-Jährige. „Aber wenn da einer zum Messer greift, erfahre ich das mittlerweile sehr schnell über das Internet.“

Gehirn mischt Fiktion und Realität

Groebel geht in der Beurteilung noch einen Schritt weiter. Nicht nur die ständige Nachrichtenflut in der Realität ändere die Wahrnehmung. Auch die immense Zahl von Krimis im deutschen Fernsehen gehe nicht spurlos an den Menschen vorbei.

„Natürlich wissen wir, dass das Fiktion ist“, sagt der Experte. Aber irgendwann vermische sich diese Fiktion unbemerkt im Gehirn mit der Realität. Da könne man sich nicht gegen wehren. „Und dann glauben Sie, dass die Welt gefährlicher geworden ist“, weiß Groebel. „Aber das“, sagt Psychologe Haas, „ist objektiv nicht richtig.“