Duisburg. Zu viel Tradition, zu wenig Perspektive: Duisburgs Dezernent für Stadtentwicklung fordert mehr Mut und geistige Beweglichkeit im Ruhrgebiet. Jürgen Dressler findet, dass Migranten bei der Weiterentwicklung des Reviers eine zentrale Rolle zukommt.
Er sieht das Ruhrgebiet mit gemischten Gefühlen. Hier klebe man zu sehr an Traditionen. IBA und Kulturhauptstadt sind für ihn Events, die nicht die Sozialstruktur der Region verändern. Das kreative Potenzial junger Migranten werde dagegen zu wenig genutzt. Jürgen Dressler (62), Stadtentwicklungsdezernent in Duisburg, gilt als Querdenker mit Hang zur Provokation. Rolf Kiesendahl sprach mit dem Planungsexperten.
Von Ihnen gibt es ein Zitat, nach dem zwischen Hammerfest und Palermo Staus zur Hauptverkehrszeit normal seien und sich im Ruhrgebiet niemand aufregen solle. Bleiben Sie dabei?
Dressler: Heute noch mehr als damals. In einer prosperierenden Region wie München ist es üblich, lange im Auto zu sitzen, um zur Arbeit zu kommen. Von Hanau, wo ich Dezernent war, braucht man mitunter zwei Stunden für die siebzehn Kilometer bis Frankfurt. An der Verkehrsmenge lässt sich auch der wirtschaftliche Erfolg einer Stadt ablesen.
Das dürfte den Autofahrer, der auf der A 40 festhängt, wenig trösten. Zudem prosperiert das Ruhrgebiet nicht wirklich. Woran liegt's?
Dressler: Für mich ist das hier immer noch eine Art Montanbe-triebsfläche, zumindest in den Köpfen der Menschen. Es gibt Kruppianer, Thyssianer, den Bergbau. Hier hat sich ein genetisch bedingtes Bewusstsein entwickelt, das alles so schwierig macht. Wir pflegen eine Altlast im Kopf, das ist doch keine Perspektive.
Warum wehren Sie sich gegen Ruhrgebietsidentität?
Dressler: Weil sie alles so schwierig macht. Man bevorzugt den Innenblick, blockiert Veränderungen. Schon der Slogan „wir sind das Ruhrgebiet” ist zu traditionell, steht für Geschlossenheit. Dabei brauchen wir mehr Offenheit. Es gibt nicht nur gewerkschaftlich organisierte Malocher, sondern auch Akademiker, Handwerker und Beschäftigte kleiner Firmen. Diese Gruppe artikuliert sich nicht und gehört nicht zum Bewusstsein der Region.
Nicht gerade eine Kompliment für die Bevölkerung.
Dressler: Die Menschen hier sind offen, aber nicht ihre Repräsentanten. Deren Mehrheit hat sich komfortabel eingerichtet und verfolgt vor allem ihre Überlebensstrategie. Es wird nicht analysiert.
Was fehlt dem Ruhrgebiet?
Dressler: In Essen, Duisburg, Oberhausen, Gladbeck und anderen Städten kann man genauso wunderbar wohnen wie in Düsseldorf. Der Freizeitwert ist enorm. Aber als Zugereister brauche ich keine Erinnerungen, sondern Perspektiven. Industriekultur allein prägt doch nicht diesen Raum.
Woher sollen diese Perspektiven kommen?
Dressler: Sicher nicht nur durch aufgesetzte Events wie Kulturhauptstadt und die IBA, deren Ziel, die Sozialstruktur zu verändern, nicht erreicht wurde. Die Mehrheit der Leute hier glaubt doch nicht mehr an das, was öffentliche Institutionen kommunizieren. Nein, das Einzige, was uns auf Dauer am Leben erhält, sind Migranten.
Das müssen Sie erläutern.
Dressler: Wir haben einen hohen Wohnwert, gute Verkehrswege, Kultur, eine Universitätslandschaft. Wir sind bestens ausgestattet mit allem, was andere auch haben. Wir haben aber auch eine alternde Bevölkerung. Und nicht den Zuzug, den wir brauchen.
Wie wollen sie denn Migranten für das Ruhrgebiet interessieren?
Dressler: Die einzigen, die nicht diesem Montandenken verhaftet sind, sind Migranten. Es geht nicht darum, aus jedem Türken qua Pass einen Deutschen zu machen. Wir müssen nicht jeden jungen Menschen mit diesem Hintergrund fragen, welchen deutschen Bildungsabschluss er hat, sondern „was kannst Du?”. Warum lassen wir keine türkischen Stadtteile mit eigener kultureller Identität, Läden und Moschee zu? Diese Schmelztiegel werden sich fortentwickeln. Nicht im Sinne einer Zwangsintegration, sondern als win-win-Situation für die ganze Stadt. Nach Marxloh, wo es 16 türkische Hochzeitsläden gibt, fahren Leute aus Paris, um einzukaufen. Erfolgreiche Städte haben Little Italy oder Chinatown.
Junge Migranten können also das Ruhrgebiet retten?
Dressler: Nicht nur sie. Migration, Weiblichkeit und auch Homosexuelle bringen eine Region voran, wie Metropolen zeigen. Mit ihnen kommt Europa, kommt Kreativität und Arbeit. Versorgungsmentalität können wir uns nicht mehr leisten.
Klingt gut, aber muss sich ein solcher Wandel nicht auch in der Baukultur äußern?
Dressler: Wir müssen Siedlungen aus den 60er und 70er Jahren, deren Wohnungen wirtschaftlich, energetisch und mangels Barrierefreiheit nicht mehr darstellbar sind, abreißen. Viele wollen dort weg. Ich mache mir inzwischen Sorgen, dass ich meine sogenannten Mercedes-Türken an andere Städte verliere. Und man sollte Migranten die Gelegenheit geben, ihre kulturellen Hintergründe auch in der Form ihrer Bauten zu artikulieren.
Wo sollen die Menschen denn künftig wohnen?
Dressler: Für Bewohner dieser Siedlungen gibt es in der schrumpfenden Stadt genug attraktive Angebote. Leuten mit entsprechendem Einkommen müssen wir Wasserlagen anbieten.
Wasserlagen sind nicht unbegrenzt vorhanden.
Dressler: Da müssen wir Flusslandschaften aufgeben, ohne uns ökologisch zu versündigen, zum Beispiel durch Häuser auf Stelzen. Was nützt es mir, wenn die Lurche tipptopp von der Quelle bis zur Mündung kommen, aber keiner mehr in der Stadt wohnen will?
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