Auf ihrer kleinen Führung lässt Lale Yarar nichts aus. Auch nicht das Haus, das die Journalisten immer fotografieren, weil es aussieht, als würde es jeden Moment in sich zusammenfallen. Der Blick fällt auf geborstenes Glas und morsches Holz.
Aber Lale Yarar weist in den Flur, der mit nahezu unversehrten Fliesen aus der Gründerzeit gekachelt ist. Plötzlich liegt in ihren Augen ein verzweifelter, beinahe flehender Ausdruck.
Sie hat Angst, dass die Reporter wieder nur über das hässliche Bruckhausen berichten, über vernagelte Türen und bröckelnden Putz. Über verwitterte Fassaden und zerbrochene Fensterscheiben, hinter denen schon lange niemand mehr wohnt.
Sie will, dass sie sehen, was sie sieht, was sie sehen möchte „Natürlich muss hier was gemacht werden“, sagt Lale Yarar. „Aber einfach alles abzureißen, das ist doch viel zu radikal.“
Eine Gemeinschaft wird zerstört
Inzwischen ist es 10 Uhr. Doch in der Edithstraße regt sich nichts. Die Wintersonne taucht das Pflaster in mildes Licht. Aus einem Café dringt leise türkische Musik. Ein alter Mann mit Vollbart und gehäkeltem Käppi ist der einzige Fußgänger, dem Lale Yarar begegnet. Er bleibt bei ihr stehen, sie unterhalten sich kurz.
„Seit 30 Jahren lebe ich schon hier“, sagt er und zeigt auf eines der Wohnhäuser. „Ich kann mir nicht vorstellen, woanders hinzugehen.“ Er klagt über die vielen Schreiben, die ihm die Stadt jetzt schickt. Ende Januar bekam er wieder einen Brief. Da stand drin, dass er sein Zuhause noch nicht verlassen muss.
Derzeit werden die ersten Gebäude begutachtet. Ab Ende März will die Stadt mit den Hauseigentümern verhandeln. Die Hälfte der Wohnungen gehört ohnehin Thyssen-Krupp. Noch weiß niemand, wann die ersten Mauern in Bruckhausen fallen werden.
Doch Lale Yarar ist sich sicher: Zerstört werden nicht nur Häuser, sondern auch eine Gemeinschaft, die über Jahrzehnte gewachsen ist. „Wir haben hier eine sehr gute Nachbarschaft“, sagt sie. „Alle gehen höflich miteinander um. Egal, welche Nationalität sie haben.“
Auf dem Wochenmarkt
Über 80 Prozent der Menschen in Bruckhausen sind Migranten. Auf dem traditionellen Freitagsmarkt tragen fast alle Frauen Kopftücher. Viele Händler preisen ihre Ware auf Türkisch an. Der Markt liegt nur wenige Gehminuten von Lale Yarars Haus entfernt.
Früher hat sie keinen Markttag versäumt. Heute kann sie nur noch selten kommen, weil sie jetzt in Essen arbeitet. Wäre sie auch weggezogen, wenn sie hier kein Haus hätte? Natürlich sagt sie nein.
Doch diese Frage beantwortet Lale Yarar auch auf eine andere Art: Wenn sie sich durch die Menge der Marktbesucher treiben lässt, mal hierhin, mal dorthin ihre Hand zum Gruß erhebt, dann wirkt sie zum ersten Mal fröhlich. „Ich kenne viele Händler. Die meisten kommen hier schon seit vielen Jahren hin“, sagt sie.
Die Angst der Händler
Plötzlich steuert Lale Yarar auf einen Stand zu, hinter dem eine Frau mit dunklem Anorak und Jeanskappe steht. Lydia Windrich verkauft auf dem Freitagsmarkt in Bruckhausen seit über 20 Jahren Schmuck. Die Frauen begrüßen sich mit Händedruck. Sie sind nicht nur gute Bekannte, sondern auch Verbündete.
Die Händlerin wohnt im benachbarten Stadtteil Marxloh und hat dort gegen den Abriss gekämpft. Auch hier sollten mehrere Straßenzüge platt gemacht werden. Doch die Stadt hat die Abrisspläne deutlich reduziert: In Marxloh sind nur noch 18 Häuser betroffen. Auch der Marktplatz in Bruckhausen soll bleiben.
Doch Lydia Windrich fürchtet, dass ihr trotzdem Kunden verloren gehen. Schließlich müssen rund ein Viertel der Einwohner bald umziehen. Auch ihr Kollege, der ein paar Stände weiter Obst und Gemüse anbietet, teilt ihre Sorge: „Die Kundschaft hier ist ohnehin weniger geworden. Wenn das so weiter geht, brauchen wir irgendwann nicht mehr herzukommen“, sagt er.
Zum Interview mit Stadtgeograf Blotevogel