Düsseldorf. In jeder Klasse sitzen ein bis zwei Kinder, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind. Doch die Anzeichen würden oft übersehen oder ignoriert, sagen Experten. NRW will das jetzt ändern.

NRW nimmt als erstes Bundesland an der Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ teil. Ab Februar 2017 werden alle Schulen im Land mit Informationsmaterial versorgt. „Mein Ziel ist es, dass an Deutschlands Schulen zu diesem Thema nicht mehr geschwiegen wird“, sagte der Bundesbeauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, am Montag im Landtag.

Sexuelle Gewalt gegen Minderjährige habe in Deutschland eine „riesige Dimension“, so Rörig. „Ich gehe davon aus, dass in jeder Schulklasse mindestens ein bis zwei Mädchen und Jungen davon betroffen sind.“ Schlüssige Konzepte, um betroffenen Schülern zu helfen, gebe es derzeit aber nur an etwa vier Prozent der Schulen. Reagiert werde meist nur dann, wenn es einen konkreten Fall gebe. Anzeichen für sexuelle Gewalt würden oft übersehen oder ignoriert. „Wir wollen, dass Lehrer kompetent reagieren können. Lehrkräfte sind keine Therapeuten, aber sie müssen wissen, was zu tun ist“, sagte NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne).

2600 Fälle im vergangenen Jahr

Laut Polizeilicher Kriminalstatistik wurden 2015 in NRW in rund 2600 Fällen Kinder und Jugendliche missbraucht; meist innerhalb der Familie oder im direkten Umfeld der Kinder. 87-mal ging es um Missbrauch von Schutzbefohlenen, zum Beispiel in Schulen und anderen Institutionen. Im schulischen Umfeld gelten Duschen, Umkleideräume sowie Toiletten als „gefährliche Orte“, erklärte der Bundesbeauftragte. Ergebnisse der so genannten „Dunkelfeldforschung“ lassen befürchten, dass die Kriminalstatistik nur einen winzigen Teil der Fälle abbildet. „Forscher gehen davon aus, dass in Deutschland jeder zehnte Mensch zwischen null und 18 Jahren sexuelle Übergriffe bis hin zu Missbrauch erleidet oder erlitten hat“, erklärte Johannes-Wilhelm Rörig. Bis zu 100.000 Fälle im Jahr werden in Deutschland vermutet.

Themen-Mappen und Online-Portal

Sämtliche Schulen in NRW erhalten mit Beginn des zweiten Schulhalbjahres Info-Mappen zum Thema und Rat von Experten. Darüber hinaus wurde ein Internet-Fachportal zur Unterstützung der Schulen eingerichtet: www.schule-gegen-sexuelle-Gewalt.de. Die anderen Bundesländer werden sich bis 2018 dieser Initiative des Bundes anschließen. „Schule ist ein bedeutender Ort für den Kinderschutz. Hier erreichen wir alle Kinder und Jugendlichen“, sagte Sylvia Löhrmann.

Alle Schulen in NRW sind gesetzlich verpflichtet, jedem Anschein von Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch von Schülern nachzugehen. In der Praxis scheuen sich viele Pädagogen aber davor, diese Probleme aktiv anzugehen. Die Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ soll Lehrer zum Handeln ermutigen.