Essen. . Das sorgte für Aufsehen: Der Reifen eines Notarztwagens wird zerstört, der Patient stirbt. Rettungsdienste klagen: Die Aggression gegen sie nimmt zu.

Die Helfer sind fassungslos: Eine halbe Stunde lang haben sie gerade um das Leben eines 81 Jahre alten Patienten gekämpft – erfolgreich. Der nierenkranke Mann ist am Donnerstagnachmittag in einem Dialysezentrum in Essen-Steele zusammengeklappt und gerade wieder transportfähig. Ein Feuerwehrmann will die Trage aus dem Wagen holen, da bemerkt er den Plattfuß. Er schaut genauer hin. Das darf nicht wahr sein! Jemand hat den Reifen des Notarztwagens zerstochen. Es ist ein Stich ins Herz der Helfer.

Zehn, vielleicht fünfzehn Minuten beträgt die Verzögerung. Denn das Notarztauto blockiert den Rettungswagen in der Einfahrt, die Helfer müssen zudem Material umladen. Fortwährend reanimieren sie den Patienten auf dem Weg zum Krankenhaus. Vergeblich – er stirbt kurz nach seiner Ankunft.

"Die Kollegen haben schon ein dickes Fell"

„Ein krasser Einzelfall“, sagt Sascha Keil, Sprecher der Feuerwehr Essen. „Aber grundsätzlich gibt es eine steigende Respektlosigkeit den Rettungskräften gegenüber . . . Die Kollegen haben schon ein dickes Fell. Beleidigungen werden kaum noch gemeldet. Tätliche Übergriffe sind aber selten.“

Bei solch einem Notarztwagen wurde ein Reifen zerstochen.
Bei solch einem Notarztwagen wurde ein Reifen zerstochen. © Essen

Manchmal geschehen heftige Konfrontationen allerdings auch am laufenden Band: Rund 150 Schaulustige umzingeln die Polizei in Hagen, als sich ein angetrunkener Fahrer am Donnerstagabend mit seinem Wagen überschlägt. Erst vor drei Wochen hatte die Polizei nach einem ähnlichen Fall per Facebook gemahnt: „Schämt euch, ihr Gaffer!“ Und wieder reagieren die Knipser und Filmer nicht auf Platzverweise. Am Vatertag setzt die Polizei schließlich einen Hund ein, um sie auf Abstand zu bringen – sein treuer Blick genügt schon.

Eskalation wegen eines Knöllchens

Am Mittwochmorgen wollen zwei Polizisten in Essen-Altendorf lediglich ein Knöllchen aufschreiben, da eskaliert der Streit mit dem Vater des Halters. Bis zu 30 Personen bedrängen die Polizisten und lassen erst ab, als diese den Schlagstock nicht nur vorzeigen, sondern auch einsetzen.

Während des Einsatzes beschimpft wurde schon fast jeder Mitarbeiter von Rettungsdiensten und Feuerwehren (98 Prozent). Etwa jeder Zweite wurde angegriffen, geschubst oder angespuckt. Und mehr als jeder vierte berichtete den Kriminologen der Ruhr-Uni Bochum um Thomas Feltes von „strafrechtlich relevanten Übergriffen in den vergangenen zwölf Monaten“. Für die Studie im Auftrag der Unfallkasse NRW wurden 2012 mehr als 2000 Helfer in NRW befragt.

Rettungskräfte als "Bestandteil des Systems"

45 Prozent der Fälle spielten sich im privaten Raum ab, jeder zweite Vorfall ereignete sich auf öffentlich zugänglichen Plätzen oder in öffentlichen Einrichtungen. Ein gutes Viertel der Übergriffe geschah in „bürgerlichen Wohngegenden“. Die meisten Täter waren zwischen 20 und 39 Jahre alt, männlich und oft alkoholisiert.

Dass das Gewaltpotenzial deutlich steigt, spüren auch die Johanniter. Sprecher Marco Schauff erklärt: „Im Nachgang zu Konfliktsituationen werden Rettungskräfte vermutlich nur als Bestandteil des ,Systems’ betrachtet. Und offenbar wird dieses von zunehmend vielen Bürgern als ungerecht betrachtet und für ihre Situation verantwortlich gemacht. Vielleicht sehen sie eine Chance, sich aufzulehnen, indem sie Rettungskräfte angreifen. Ihre Uniformierung trägt wohl dazu bei, dass sie als Staatsorgan wahrgenommen werden.“ Oft seien Alkohol oder Drogen im Spiel.

Was kann man tun?

Die Johanniter setzen bereits seit 2008 auf Deeskalationstrainings, vermehrt bieten die verschiedenen Träger der Rettungsdienste aber auch Selbstverteidigungskurse an. Thomas Nowinski gibt sie. Der Hattinger ist Trainer bei „Krav Maga Street Defence“ in Essen und hat die israelische Kampftechnik schon dem Personal der Notaufnahme im Bergmannsheil Bochum nahegebracht, er gab Kurse im Jobcenter und sogar bei der Industrie- und Handelskammer – Kundenkontakt als letzte Maßnahme.

„Fast alle Teilnehmer hatten leichte körperliche Gewalt erlebt“, sagt Nowinski. „Gerade Rettungspersonal fällt es schwer, umzuschalten. Sie wollen ja helfen. Und plötzlich sollen sie sich körperlich wehren.“ Es komme darauf an, auch körperlich unterlegenen Personen ein Zeitfenster zur Flucht zu ermöglichen. Einmal berichteten Nowinski zwei Teilnehmer nur zehn Tage nach dem Kurs, wie sie mit Krav Maga einen Kraftmeier in den Griff bekommen hätten, der gerade einen Schreibtisch durch die halbe Notaufnahme geschubst hatte: mit Körperhaltung. Mit dem Signal: Wir werden uns wehren.

Wie können Betroffene Übergriffe nachweisen?

Im Fall des verstorbenen Patienten suchen die Ermittler nun den Reifenstecher. Womöglich, so hieß es gestern, habe sich jemand dafür „rächen“ wollen, dass die Retter den Verkehr vor Ort beeinträchtigt hatten. Es waren viele Taxifahrer in der Nähe des Tatorts, aber auch Passanten, die etwas gesehen haben könnten.

Ob sich allerdings eine Kausalkette herstellen lässt zwischen der Verzögerung und dem Tod des Mannes, gilt dem Vernehmen nach als eher unwahrscheinlich. Man müsste nachweisen, dass just jene zehn Minuten ausgereicht hätten, das Leben des Mannes zu retten. Und so steht vermutlich nur der Vorwurf der „Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel“ (§ 305a StGB) im Raum – das wird mit maximal fünf Jahren Haft bestraft. Oder mit einer Geldstrafe.