Ruhrgebiet. Immer mehr Schüler mit guten Noten bekommen private Förderung. Einige Experten warnen vor dem Leistungsdruck. Doch ist der wirklich so schlimm?

Die Zwei minus in Mathe war ein Schock. Eine Facharbeit nur, nicht relevant fürs Abitur, aber ein Warnsignal für Sophia M. – die 17 Jahre alte Gymnasiastin aus Essen sucht nach einer Formulierung: „Es hört sich abstrus an, aber ich hatte Angst, dass ich noch eine Zwei schreibe. Ich weiß halt, dass ich eine Einser-Kandidatin bin.“ Also nahm Sophia Nachhilfe.

Alles ist relativ. Auch gute und sehr gute Schüler nehmen zunehmend Nachhilfeunterricht – das ist ein Ergebnis der Bertelsmann-Nachhilfestudie. Den Trend beobachten Lehrer und Bildungsexperten seit einigen Jahren. Das Urteil darüber ist geteilt.

„Die Schüler werden zu Lernmaschinen“, sagt Julia Gajewski, Schulleiterin einer Gesamtschule im Essener Norden. Der Druck auf die Schüler habe sich durch die verkürzte Schulzeit noch verschärft. Eine Drei auf dem Zeugnis, das sei für manche Schüler und Eltern schon eine Katastrophe.

Bereitet die Schule gut aufs Studium vor?

© WNM

Ulrich Czygan, Vorsitzender der Landeselternschaft der Gymnasien in NRW, verteidigt hingegen die Nachhilfe, auch um die Chancen auf einen Studienplatz zu erhöhen. „Wenn der Sohn Ingenieurwissenschaften studieren will, braucht er spezielle Mathekenntnisse. Die bekommt er an der Schule kaum noch vermittelt.“ Fast alle Studiengänge seien heute mit einem Numerus clausus belegt. Auch gute Schüler, beobachtet Czygan, würden daher von den Eltern gepusht. Einen Vorwurf will er ihnen aber nicht machen: „Jeder will doch das Beste für seine Kinder.“

In Sophias Fall war es andersherum. „Meine Mutter fand die Zwei minus gar nicht schlimm. Aber ich sagte ihr: Ich brauche professionelle Unterstützung.“ 30 Euro nimmt der alte Mathelehrer der großen Schwester für die Stunde. „Es ist kein rausgeschmissenes Geld“, findet Sophia. Die Schwester hat das Eins-Null-Abi geschafft und den Medizinstudienplatz bekommen. Sophia dagegen weiß noch gar nicht, was sie studieren will . . .

Ist der "Akademisierungswahn" schuld?

Brigitte Balbach, Vorsitzende des Verbandes Lehrer NRW, sieht im „Akademisierungswahn“ eine Ursache für die Entwicklung. „Wir brauchen einen Bewusstseinswandel. Es ist ein Irrglaube, dass es jenseits des Abiturs keine Lebens- und Berufsperspektive gibt.“ Sie rät Eltern bei der Nachhilfe zur Zurückhaltung: „Ich empfehle dringend, in diese Entscheidung die Fachlehrer einzubinden.“

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Schon in der Grundschule schickten überehrgeizige Eltern ihre Kinder in die Nachhilfe, kritisiert Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). „Man muss den Kindern die Möglichkeit geben, sich zu entfalten und sollte nicht von Anfang an Druck ausüben.“ Viele Eltern glaubten nicht, dass ihr Kind genügend gefördert werde. Zufrieden könne die Politik erst sein, „wenn der private Nachhilfemarkt zum Erliegen kommt“.

Wer einmal Nachhilfe bekommt, bleibt oft dabei

Viele der besseren Nachhilfeschüler bereiten sich auf das Abitur oder die Mittlere Reife vor, sagt Thomas Momotow, Sprecher des Bochumer Unternehmens „Studienkreis“. Doch es ist auch so: Wer einmal Nachhilfe bekommt, bleibt oft dabei. Das hat eine Untersuchung des Studienkreises und des Instituts für Individuelles Lernen ergeben. Der Leistungsdruck aber, glaubt Momotow entstehe nicht bei den Eltern, „er kommt vom Arbeitsmarkt. Für die meisten Jobs wird heute ein Abitur verlangt, wenn nicht ein Studium.“ Der Druck pflanze sich nur fort in die Familien.

Und in die Schulen. „Auf meiner spielt sich alles auf sehr hohem Niveau ab“, sagt Sophia. „Alle wollen einen Einser-Schnitt. Alle reden davon. Alle haben Angst vorm Abi.“ Ist das nicht schlimm? „Nein, ich kenne es nicht anders.“