Bochum.. In den Bochumer „Claudius-Höfen“ leben Behinderte und Nicht-Behinderte, Junge und Alte zusammen. Das Projekt gilt als Paradebeispiel für neue Wohnformen. Doch im Ruhrgebiet ist es vielen noch unbekannt.
Eine Geschäftsfrau zieht den Koffer ins Hotel. An ihr vorbei fährt ein junger Mann im Rollstuhl, winkend. Im Bistro bedient ein behinderter Kellner eine Schar jugendlicher Ausflügler. Eine alte Dame fährt ein Kleinkind im Kinderwagen spazieren — Szenen wie aus einem Film über das gemeinsame Leben von Alt und Jung, Behinderten und Nichtbehinderten.
Es ist zwar kein Film, dennoch ist dieses Dorf mitten in der City von Bochum ein kleines Kunstwerk: Die „Claudius-Höfe“, ein paar Schritte vom Hauptbahnhof entfernt, haben eine Form gefunden für das Leben, wie es sich viele wünschen. Ein außergewöhnliches Wohnkonzept, mit dem NRW-Innovationspreis ausgezeichnet — und immer noch ein Geheimtipp.
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„Dabei gehört unser Hotel auch unter Geschäftsleuten zu den besten in Deutschland“, sagt Sebastian Zoller (39), Unternehmensberater. Er wohnt mit seiner Frau, Lehrerin, und seinen beiden Kindern, fünf und drei Jahre alt, in einem der begehrten „Stadthäuser“ des Dorfes. „Die Lage ist klasse, und der Preis auch“, sagt er. 7,50 Euro pro Quadratmeter. Und dass man hier nicht nebeneinander herlebt, sondern miteinander — das hat der Familie gefallen. Gemeinsamer Martinszug, gemeinsame Geburtstage. „Und wer Hilfe braucht, der findet sie hier unter Garantie.“
Knapp 200 Menschen leben in den "Höfen"
Funktionierende Dorfstruktur, das ist die Idee, dazu gehört natürlich der Marktplatz als Treffpunkt, um den sich ein Restaurant, ein Café und das Haus mit dem beliebten Saal befindet, der reichlich Platz für Gemeinschaftsfeste bietet. Dahinter dann das Hotel zu Preisen zwischen 79 und 129 Euro, eine schicke Unterkunft für Besucher der Hofgäste oder auch „Fremde“, wie man schon mal zu Leuten sagt, die nicht hier wohnen.
Sogar eine Kirche gibt es. Aber sie sei nicht geweiht, also mehr ein Raum der Stille. Eine alte Dame sagt, man hätte da lieber ein stilles Örtchen hinbauen soll, das fehle. Aber sonst sei sie mit allem zufrieden, wenn man mal von der Haustür absieht, die sich viel zu schwer öffnen lasse, und sie mit dem Rollator da nicht rein kommt.
Kleinkram angesichts des Großprojekts, das hier 2012 vom Wissenschaftsministerium als Paradebeispiel für alternatives Wohnen gefeiert wurde. Knapp 200 Menschen wohnen auf fast 20.000 Quadratmetern. Ein Vorzeigeprojekt in Deutschland.
Angefangen hat es 2004, als sich Eltern behinderter Kinder fragten: Wo sollen diese Kinder später mal wohnen? „Bis dato waren sie Schüler der Matthias-Claudius-Schule, die auch Lernbehinderte unterrichtet“, sagt der Geschäftsführer Willi Gründer. Seine Frau war Lehrerin dort, ihr lernbehinderter Sohn, der jetzt im Café arbeitet, gab den Anstoß für diese völlig neuartige Idee.
Ehemaliger Fuhrpark
Also suchten sie ein Gelände und fanden es so zentral, wie sie es sich nicht hätten träumen lassen: Der ehemalige Bochumer Fuhrpark schien wie geschaffen für das Projekt, für das 22 Millionen Euro veranschlagt wurde. Gründer: „Wir riefen eine Stiftung ins Leben und fanden direkt zwei Stifter, die uns 4,5 Millionen Euro gaben.“
Für Achim Schlafke (41) war dieses Dorf ein Glücksfall. Seit 22 Jahren ist er nach einem Autounfall querschnittgelähmt. Er sitzt im Rollstuhl und ist darauf angewiesen, dass sämtliche Wege barriefrei sind. „Ist aber fast nirgendwo so.“ Der ausgebildete Architekt ist nicht in einer der betreuten Wohngemeinschaften des Dorfes untergebracht, sondern lebt mit seinem Betreuer in einer Wohnungen. „Es ist hier so, wie es in Nachbarschaften sein soll“, sagt Schlafke, der voher in den Hochhäusern des Bochumer Unicenters wohnte.
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Vieles war okay, aber die Gemeinschaft fehlte komplett. Damit meint er nicht nur die Zusammenkünfte zum Spontangrillen, sondern auch seinen Einsatz bei Frau Bürger. Die 95-Jährige ist die älteste Bewohnerin im Dorf, und ist vielleicht nicht ganz so fit mit dem Computer wie Achim Schlafke. „Er hilft mir, wenn das Ding mal wieder abgestürzt ist“, sagt Gerda Bürger. Als sie vor zwei Jahren hier einzog, hat sie es kaum für möglich gehalten, dass sie zu den handverlesenen Bewohnern zählen sollte. „Wer nimmt denn noch so eine alte Frau?“
Bloß nicht in die Alten-WG
93 Jahre war sie, lebte in Bochum-Riemke, in einem Mehrfamilienhaus. „Ich wollte auf keine Fall in eine Alten-WG“, sagt sie. „Hier ist es herrlich, hier laufen die Kinder herum, man fühlt sich nicht wie in einem Ghetto.“ Sie sitzt auf dem „Begegnungsbalkon“, von dem man auch in ihre Wohnung blicken kann. Schicke 60 Quadrat mit großen Glasfenstern für an die 600 Euro warm. Flurputzen inklusive. Wenn es mal irgendwann nicht mehr geht, gibt es auch einen Pflegedienst, der sich kümmern kann.
Doch an so etwas denkt sie gar nicht. Sie denkt an das Miteinander, an das große Fest zu ihrem 95. Geburtstag, das sie mit vielen aus dem Dorf in dem großen Saal gefeiert hat. Noch lieber erinnert sie sich aber an die Geburt der kleinen Charlotte, „auf die wir alle so sehnlichst gewartet hatten“.