Essen. Sie kennt den Stress im Pflegeheim. Aber die Arbeit mit Demenzkranken macht auch Mut: Die Leiterin einer Wohngruppe für Demente berichtet.

Natürlich kommt kaum einer freiwillig her. Das Vergessen hat die Alten ins Heim gezwungen. Die Besuche der Angehörigen sind oft genug mit Traurigkeit und Schuldgefühlen belastet. Aber wie ergeht es denen, die immer hier sind? Wie erleben Pflegekräfte das Heimleben zwischen Vergessen, Zeitdruck und dem kleinen Glück? Angelika Rauke-Pott leitet einen Wohnbereich für Demente im Martineum, einem Heim in Essen-Steele. Die 59-Jährige hat zwei Kinder großgezogen, bevor sie mit 35 ihren Beruf erlernte und sich fortbildete in Gerontopsychiatrie und Sterbebegleitung.

Haben Sie Angst vor Demenz?

Angelika Rauke-Pott: Natürlich, aber ich habe auch ganz viele Demenzerkrankte mit einer glücklichen Grundstimmung kennengelernt. Und ich sage immer zu meinem Mann: Wenn ich glücklich bin, möchte ich bitte auch noch künstlich ernährt werden. Denn die Gefühle schwinden ja nicht, sie werden immer prägnanter. Ein Beispiel … da kommen mir heute noch die Tränen ... Mein Sohn ist mit 27 Jahren gestorben an einem Gehirntumor, und ich habe versucht, meine Trauer mit Arbeit zu bewältigen, war betont gut gelaunt. Da kniete ich eines Tages vor einer stark demenzkranken Bewohnerin, um ihr die Strümpfe anzuziehen. Plötzlich nahm sie mein Gesicht in beide Hände und sagte: Kind, warum bist Du so traurig? ... Da musste ich weinen. Aber ich achte heute stärker auf meine Gefühle – und ich lebe mehr danach.

Immer wenn ich meine eigene Oma im Heim besucht habe, empfand ich die Situation als bedrückend. Kennen Sie das?

Rauke-Pott: Was ich gar nicht gut aushalten kann, ist die Ruhe nach dem Frühstück. Wenn alle nur dasitzen und aufs Mittagessen warten. Das empfinde ich als hoffnungslos. Wir haben natürlich viele Angebote zum Mitmachen, jedoch nicht den ganzen Tag lang. Es gibt aber auch Kollegen, die die Stille sehr genießen.

Viele sorgen sich, dass sie oder ihre Angehörigen im Heim vernachlässigt werden könnten.

Rauke-Pott: Als ich in einer anderen Einrichtung angefangen habe, fand ich die Zustände dort ganz schrecklich. Wenn ich mit einer Bewohnerin auf dem Flur spazieren gegangen bin, haben die anderen Pflegekräfte lange nicht mit mir gesprochen, weil ich die Bewohner verwöhnen würde. Ich habe mich beschwert, aber: Die Alten waren ja satt, sauber und lagen im Bett. Das ist jetzt allerdings 24 Jahre her. Und es hat mich eher angespornt, etwas verändern zu wollen. Als ich im Martineum anfing, habe ich ein Haus gefunden, das mir große Freiheit gelassen hat im Denken und mein Handeln gefördert hat.

Die Pflege hat sich verändert?

Rauke-Pott: Ja, wir haben gelernt, die Bewohner einfach mal zu lassen. Wenn sie alleine essen, sind die Finger vollgeschmiert. Aber sie brauchen keinen, der sie permanent sauber macht oder sagt: Das dürfen Sie nicht. Die Menschen sind glücklicher, wenn Sie noch ein eigenes Leben habe.

Führt das nicht zu Konflikten?

Rauke-Pott: Die Angehörigen sind emotional verbunden und können die Veränderung, die der Kranke durchläuft, nur schwer akzeptieren. Vor allem die Ehefrauen nicht. Man kann sie ja verstehen: Sie haben oft für die Sauberkeit gesorgt. Und plötzlich verknuselt er seine Sachen, zerpflückt sein Butterbrot. Man will es einfach nicht wahrhaben. Man will den Mann, die Frau, die Oma von früher zurück. ,Komm, halt mal den Löffel richtig!’ Und der Kranke wird unsicher, ärgerlich. Wodurch die Ehefrau sich angegriffen fühlt. Hier sind wir gefragt, aufzuklären.

Sie machen Bezugspflege, damit der Bewohner immer einen vertrauten Menschen um sich hat. Wie gehen Sie mit den Beziehungen um, die so entstehen?

Rauke-Pott: Heute sagte ein Bewohner noch: ,Sag doch endlich Du zu mir.’ – ,Nein, ich möchte das nicht. Aber wir verstehen uns doch trotzdem gut.’ – ,Na gut, aber Du könntest Du trotzdem sagen’ ... Es hat mit Selbstschutz zu tun, aber auch damit, dass ich seine Persönlichkeit wahre, ich muss ihn ja auch waschen ... Sicher konnte ich so manche Nacht nicht schlafen, weil jemand im Sterben lag, den ich sehr mochte. Aber da ziehe ich mich dann emotional zurück. Da spielt auch meine eigene Angst vor dem Tod eine Rolle.

Nimmt die Angst davor denn ab?

Rauke-Pott: Wenn jemand gestorben ist, und wir kommen rein, dann liegt noch etwas in der Luft. Die Person ist noch da. Ihr Körper liegt da mit einem ganz verklärten, verwunderten Lächeln. Das macht mir Hoffnung: Es kann doch eigentlich nur schön sein, da wo sie ist. Es gibt nur ganz wenige, die anders aussehen, verkrampft. Die sehr gekämpft haben und nicht loslassen konnten. So möchte ich nicht sterben.

Wie viel Bürokratie steckt in ihrem Alltag?

Rauke-Pott: Eine Stunde pro Tag sitze ich am PC, und da ist meine Zeit für die Wohnbereichsleitung nicht eingerechnet. Das Gesundheitssystem ist für mich ein Lügenkonstrukt. Wir Pflegekräfte wollen doch alle qualitativ hoch arbeiten, dem Menschen ein Zuhause geben. Das aber ist mit so wenigen schwer zu schaffen. Es geht alles in Hetze und nur mit Überstunden. Ich war heute bei einem Bewohner und wurde dreimal rausgerufen, alles wichtig ... und irgendwann muss man mal Luft holen. Wissen Sie, wo ich das mache? Auf dem Klo. Da ist nämlich keiner. Ich finde das schrecklich, für mich ganz persönlich! Allerdings ist das Klo mittlerweile ganz hübsch. Wir haben Blümchenbilder an die Wand geklebt.