Bochum. Die Kriminalität geht zurück, doch die Verbrechensfurcht steigt. Denn viele Bürger hegen irrationale Ängste, erklärt Kriminologe Thomas Feltes.

Die Kriminalität geht zurück, in diesem Jahr ebenso wie im langjährigen Trend. Dennoch steigt offenbar die Angst vieler Bürger, selbst zum Opfer zu werden. Sie nehmen die Fakten nicht zur Kenntnis oder projizieren allgemeine Ängste auf ein scheinbar konkretes Feld, glaubt der Kriminologe Prof. Thomas Feltes von der Ruhr-Uni Bochum.

Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) zeigt seit Jahren durchaus positive Trends. Ist das Risiko, selbst zum Opfer eines Verbrechens zu werden, denn tatsächlich gesunken?

Prof. Thomas Feltes war von 2002 bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum.
Prof. Thomas Feltes war von 2002 bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. © RUB | Katja Marquard

Thomas Feltes: Wir wissen, dass eine große Lücke klafft zwischen dem was die Polizei an Straftaten registriert und dem, was wirklich geschieht. Wir reden über ein Verhältnis 1:2 bis 1:4, wobei schwerere Delikte häufiger angezeigt werden, leichtere oft nicht. Es ist aber so, dass die Menschen insgesamt deutlich häufiger Anzeige erstatten als vor einigen Jahren, wie unsere Bochumer Dunkelfeldstudien zeigen. Wenn zugleich die polizeilich registrierte Kriminalität zurückgeht, bedeutet dies, dass der tatsächliche Kriminalitätsrückgang noch deutlicher ausfällt als in der PKS ... Wir leben in der sichersten aller Zeiten und in Deutschland in einer der sichersten Gesellschaften. Das Risiko, Opfer einer schweren Straftat zu werden, ist um ein Vielfaches niedriger als einen Verkehrs- oder Haushaltsunfall zu erleiden. Dennoch haben wir vor Kriminalität eine viel höhere Angst.

Die Verbrechensfurcht scheint sich tatsächlich gegenteilig zu entwickeln. Warum?

Die positive Entwicklung wird von den Bürgern so nicht wahrgenommen. Auch, weil ein Anstieg der polizeilich registrierten Kriminalität von der Politik immer breit und intensiv thematisiert wird. Umgekehrt besitzt ein Rückgang der Kriminalität nicht diese Dramaturgie. Das andere ist: Diffuse Existenz- und Abstiegsängste vermischen und überlagern sich und verlieren im Laufe der Zeit ihre Bezugspunkte. Dadurch entwickeln sie sich zu einem unbestimmten Bedrohungsgefühl, das in der Kriminalitätsfurcht einen Ausdruck findet, wo sie benannt und verarbeitet werden können. Diese „wabernde Angst“ durchzieht unseren Alltag und legt sich wie ein Nebelschleier über unsere Wahrnehmungen.

Warum eignet sich die Kriminalität offenbar so sehr für Projektionen?

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Angst vor Kriminalität zu haben, ist ein Ventil, weil diese Angst im Vergleich zu anderen Ängsten greifbar und personalisierbar ist. Es wird auch täglich über Kriminalität diskutiert. Die Politik gibt die Vorlage dazu, indem sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit nach Strafverschärfungen ruft und damit den Eindruck erweckt, dass wir hier ein Problem hätten. Dabei ist eigentlich allen Politikern bekannt, dass härtere Strafen die Situation eher verschlechtern, weil wir dann mehr Menschen im Strafvollzug haben. Strafvollzug bedeutet im Grunde die Vorbereitung weiterer Straftaten. Das ist ein Teufelskreis.

Welche Rolle spielen Soziale Netzwerke?

Das betrifft nur bestimmte Generationen, aber da ist es tatsächlich so, dass durch diese Echokammern Dinge permanent verstärkt werden, sei es Rechtsradikalismus oder die Angst vor dem Fremden, wo aus einzelnen Vorgängen oder Fake News eine Art Lawine entsteht.

Sind politische Agitatoren ein Faktor?

Ich denke, dass die nur für den Bereich eine Rolle spielen, der ihnen ohnehin zugewandt ist. Durch Studien wissen wir ja, dass gut ein Viertel der Deutschen eine rechtslastige bis rechtsextreme Grundeinstellung haben. Und diesen Teil bedient auch die AfD. Aber es ist nicht so, dass wir mehr Rechtsextreme in der Gesellschaft hätten, nur trauen diese sich nun, nach außen zu kommen und auch schwere Gewalttaten zu begehen wie in Hanau. Weil sie das Gefühl haben, sie führen nur das aus, was andere gerne tun würden, aber sich nicht trauen.

Was halten Sie von Reuls Vorstoß, dass die Polizei bei Straftaten grundsätzlich die Nationalität nennen soll?

Das hat mit Verbrechensfurcht nichts zu tun. Es ist ein Reflex gewesen auf den Vorwurf, die Polizei würde hier Dinge verheimlichen. Herr Reul weiß es selbst ganz genau, dass die Nationalität für die Tatbegehung keine Rolle spielt.

Und Friedrich Merz’ Ansatz, Rechtsradikalität mit der Thematisierung von Clankriminalität und besseren Grenzkontrollen zu bekämpfen?

Merz versucht eben, die Klientel in der AfD zu bedienen, die bisher CDU gewählt hat. Aber auch hier hat die CDU in Form von Reul wieder die Vorlage geliefert. Ich bin sogar der Auffassung, dass der Anschlag in Hanau ein Stück weit durch die Maßnahmen gegen die angebliche Clankriminalität und die Razzien in Shishsa-Bars mitbeeinflusst worden ist. Wegen illegaler Tabakmischungen mit Hundertschaften über diese Shisha-Bars herzufallen, ist symbolische Politik gewesen, um von anderen Dingen abzulenken. Dabei wissen wir, dass von denen, die Clans zugerechnet werden, 95 Prozent nicht kriminell sind.

Was kann man tun, um die Verbrechensfurcht zu bekämpfen?

Das subjektive Unsicherheitsgefühl hat vielfältige Ursachen – und die Polizei ist die Institution, die am allerwenigsten dieses Gefühl beeinflussen kann. Aber sie kann im Stadtteil in Verbindung mit der Politik das Gespräch mit den Bürgern suchen, um ihre Ängste aufzunehmen. Die haben oft nichts mit Kriminalität zu tun, sondern mit Straßenverkehr oder Umweltverschmutzung. Aber im Stadtteil, in der Nachbarschaft kann die Polizei zeigen, dass sie Ängste Ernst nimmt und könnte auch die Verbrechensfurcht thematisieren. Die städtische Ebene ist viel zu hoch. Denn selbst einen Block weiter können die Dinge schon wieder anders aussehen. Die Polizei müsste aber auch der Politik klarmachen, was sie kann und was sie nicht kann. Wenn sie sich die Viertel anschauen, wo wir erhöhte Kriminalität haben, hat das soziale Ursachen.