Ukraine-Krieg, Machtverschiebung und Klimawandel: Die Welt ist im Wandel. Jörg Quoos, Chefredakteur der Zentralredaktion, blickt in die Zukunft.

Seit 17 Monaten regiert die „Ampel“ – und noch nie sah sich eine Regierung mit derart gefährlichen Krisen gleichzeitig konfrontiert. Olaf Scholz und seine Partner aus FDP und Grünen stehen vor fundamentalen Herausforderungen, bei denen Scheitern keine Option ist. Sie müssen den Weltfrieden retten, den Kampf gegen den Klimawandel beschleunigen und Deutschland sicher durch eine historische Verschiebung der Machtblöcke steuern. Die Welt ist im Wandel und Deutschland steckt mittendrin. Vier Thesen für die Zukunft:

1. Die Globalisierung stößt an Grenzen

In den vergangenen Jahrzehnten kannte die Globalisierung nur Wachstum: Immer mehr, immer radikaler, immer schneller. Multinationale Unternehmen sprengten im Wettlauf um die beste Rendite Grenzen von Ländern und Kontinenten. Auch Deutschland verlagerte Produktionsstätten – erst zu osteuropäischen Nachbarn, dann nach Russland, dann noch weiter in Richtung Osten nach China. Alle paar tausend Kilometer weiter ostwärts wurden Löhne und Produkte billiger. Aufwändige Lieferketten sollten garantieren, dass die drei Cent billigere Schraube aus China den Weg zurück in die deutsche Fabrik fand. Veranstaltungen wie das Weltwirtschaftsforum in Davos waren das Hochamt dieser Globalisierungsbewegung. Doch ihre Jünger sind in kurzer Zeit hart auf den Boden der Tatsachen geprallt.

Beim jüngsten Forum warnten Wissenschaftler im neuen „Global Risk Report“ davor, dass die aktuelle Geopolitik die wirtschaftliche Zusammenarbeit immer stärker überlagert. Und der Report räumte zwei alte Gewissheiten ab: Erstens, dass die Globalisierung die Produktion von Gütern automatisch billiger und besser macht. Und zweitens, dass sie die Schere zwischen Arm und Reich schließen kann.

Der Bericht hält erstmals fest, dass die Gefahr einer Ära der wachsenden „Kluft zwischen reichen und armen Ländern“ besteht, die den „ersten Rückschritt in der Menschheitsentwicklung seit Jahrzehnten“ einleiten könne. Die Schattenseiten der Globalisierung waren auch in Deutschland zu spüren. Inmitten einer gefährlichen Pandemie war klar: Nicht einmal einfache Schutzanzüge und Atemmasken wurden noch in Deutschland hergestellt. Die billigen „Cent-Produkte“ aus Fernost waren über Nacht unbezahlbar geworden und schwer verfügbar. Die Debatte um die Rückkehr der Produktion von essenziellen Bauteilen wie Computerchips oder pharmazeutischen Produkte ist in Europa – aber auch den USA – in vollem Gang. Das bedeutet nicht das Ende der Globalisierung. Aber der Traum, dass eine globalisierte Welt automatisch auch eine bessere Welt ist, ist ausgeträumt.

2. Europa wird unsicherer

Es war der Morgen des 27. Februar 2014, an dem sich alle Hoffnungen auf einen dauerhaften Frieden in Europa begannen aufzulösen. Elitesoldaten besetzten strategisch wichtige Punkte auf der ukrainischen Halbinsel Krim. Die Soldaten brachten die Gebäude des Parlaments und der Regionalregierung unter ihre Kontrolle und hissten die Flagge Russlands, deren Farben weiß-blaurot für „Glaube und Edelmut“, „Hoffnung und Ehrlichkeit“ und für „Liebe, Mut und Tapferkeit“ stehen sollen.

Mit Ehrlichkeit und Edelmut war es in diesen Tagen nicht weit her. Die „grünen Männchen“ trugen keine Hoheitsabzeichen an ihren Kampfanzügen. Es dauerte lange, bis Moskau einräumte, dass es russische Spezialkräfte waren, die den völkerrechtswidrigen Gebietsraub vorbereiteten. Die Krim-Annexion war der Wendepunkt in der friedlichen Entwicklung Europas nach dem Ende des Kalten Krieges. Mit dem brutalen Überfall auf das Festland der Ukraine am 24. Februar 2022 wuchs der Konflikt zu einem heißen Krieg mit der Atommacht Russland. Die Folgen werden die nächsten Jahrzehnte Europas prägen.

Bündnispolitik, Nato-Erweiterung, EU-Erweiterung, die Strategie der Landesverteidigung und die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit Russland – all das wird im Kontext mit diesem Völkerrechtsbruch neu betrachtet werden.
Finnland und Schweden, lange militärisch neutral, streben in die westliche Allianz. Mit Finnland bekommt die Nato weitere 1340 Kilometer Grenze zu Russland. Kurz vor der polnischen Nato-Grenze werden auf belarussischem Territorium bald taktische Atomwaffen Moskaus stehen.

Der Historiker Herfried Münkler bezeichnete den Ukraine-Krieg bei einem Vortrag als „Zeitenwende“, die das Projekt einer westlichen, durch Freihandel geprägten Weltordnung „endgültig beendet“ habe. Europa und die USA haben die Herausforderung angenommen und unterstützen die Ukraine in ihrem Freiheitskampf. „Zeitenwende“ wurde sogar der Begriff für neue Wehrhaftigkeit der deutschen Streitkräfte. Diese Wehrhaftigkeit wird Europa bitter nötig haben und für die Deutschen und ihre Nachbarn wird sie sehr teuer werden.

3. China wird vom Partner zum Gegner

Es war der SPD-Kanzler Helmut Schmidt, der als letzter deutscher Politiker noch mit Mao Tse-Tung sprach und die Annäherung Deutschlands an das – bis heute kommunistische – Riesenreich entscheidend vorantrieb. Diese Annäherung war für die Exportnation Deutschland ein Jahrhundert-Geschäft. China sah in den Handelsbeziehungen zu Deutschland, Europa und den USA die Chance, an westlichen Wohlstand aufzuschließen: Wohnung, Auto, Urlaub. Alles bis heute keine Selbstverständlichkeit für die Mehrheit der Chinesen.

Bei einer Aussage allerdings irrte sich Schmidt. Der Altkanzler war überzeugt: „Die Chinesen erobern die Welt ohne militärische Gewalt.“ Die beispiellose Aufrüstung spricht eine andere Sprache. Der territoriale Anspruch im Südchinesischen Meer und auf Taiwan wird mit immer mehr Schlachtschiffen, Bombern und Soldaten unterstrichen. Viele westliche Militärexperten fragen sich nicht, ob es Krieg zwischen China und Taiwan und damit mit den USA geben wird, sondern lediglich: wann?

Mit Xi Jinping hat die Volksrepublik einen Führer, der an Chinas Weltmachtanspruch so konsequent arbeitet wie keiner seiner Vorgänger. Friedlich, mit dem Projekt „Seidenstraße“, das Chinas Einfluss an den Handelsrouten stärken und Rohstoffe sichern soll. Und aggressiv-militärisch mit der zahlenmäßig größten Armee der Welt. Dass China bereit ist zur Anwendung von Gewalt ist kein Geheimnis, sondern nachzulesen in Reden Xi Jinpings. Er droht Chinas vermeintlichen Widersachern offen, ihnen „die Köpfe blutig zu schlagen an der Großen Mauer aus Stahl, geschmiedet von 1,4 Milliarden Chinesen“. Hongkong, wo harte Repressionen alle Freiheiten nahmen, ist den Taiwanesen mahnendes Beispiel.

Der Wandel Chinas vom Partner zum Gegner zwingt zum Umdenken. Investitionen in China gelten zunehmend als risikobehaftet und die EU schlägt neue Töne an. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnet die Beziehungen zu China als „unausgewogen, und sie werden durch Chinas staatskapitalistisches System zunehmend verzerrt“. Dass Xi Jingping Putins Krieg gegen die Ukraine toleriert, ist das eindeutigste Signal, dass China die Rolle als Partner des Westens beerdigt hat.

4. Das Klima dominiert die Politik

Der sechste Bericht des Weltklimarats IPPC lässt keine Fragen offen. Um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, sind tiefgreifende Reduktionen beim Treibhausgas in allen Weltregionen und allen Sektoren nötig. Der Klimaschutz dominiert national wie international die politische Agenda und verlangt Zumutungen, die Demokratien an ihre Grenzen bringen können. Der Streit um das Heizungsverbot ist ein Beispiel von vielen, wie der Kampf für mehr Klimaschutz tief in die Besitz- und Freiheitsrechte der Bürger eingreift. Nach Ansicht der meisten Wissenschaftler ist radikales Umsteuern ohne Alternative. Aber die Umsetzung ist schwer, weil jahrhundertealte Gewohnheiten in Frage gestellt werden. Autoritäre Staaten gehen eigene Wege oder ignorieren die Bedrohung. In Deutschland nehmen „Klimakleber“ das Gesetz selbst in die Hand und stellen den gesellschaftlichen Konsens in Frage, ohne den das Umsteuern nicht funktionieren wird.

Der Bundespräsident beschrieb 2022 die Summe der Herausforderungen: „Wir müssen noch schneller ins postfossile Zeitalter aufbrechen, wir müssen unsere Energieversorgung, unsere Industrie, unsere Mobilität noch schneller klimaneutral machen.“ Jeder einzelne Punkt davon ist eine Herkulesaufgabe. Ihre Umsetzung wird Deutschlands politisch und wirtschaftlich an seine Grenzen führen.

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