Essen. Seit der WAZ-Gründung ist Fee Kapteina (99) als Reporterin dabei. Im Interview spricht sie über wertvolle Bleistifte, Frauenthemen und Computer.

Mit fast 100 Jahren lebt „die Fee“ noch immer in ihrer eigenen Wohnung in Essen-Werden. Als es klingelt, steht sie mit Schwung vom Sofa auf und flitzt trotz Gehstock zum Türöffner: Die WAZ ist da! Im Hausflur stehen sich zwei Journalistinnen gegenüber, die beide ihre berufliche Laufbahn als Volontärinnen gestartet haben – nur ist die eine eben 73 Jahre älter als die andere. Denn Felicitas „Fee“ Kapteina ist eine Reporterin der ersten Stunde. Mit Andrea Zaschka (26) spricht sie über den Wandel im Journalismus.

Fee, wie sind Sie 1948 zur WAZ gekommen? Ich bin durch eine Stellenausschreibung im Internet auf das Volontariat aufmerksam geworden, aber das war zu Ihrer Anfangszeit ja noch undenkbar.

Ohja, so etwas wie das Internet hätte damals niemand für möglich gehalten. Nach dem Krieg habe ich ab 1946 zunächst für die Neue Ruhr Zeitung (NRZ) geschrieben. Damals war die NRZ aber eine reine SPD-Zeitung und damit konnte ich mich nicht so recht anfreunden – ich hatte mir nach der Zeit der Nationalsozialisten geschworen, nie wieder zu irgendeiner Partei dazuzugehören und politisch unabhängig zu bleiben. Als dann die WAZ gegründet wurde, hat der Chefredakteur Erich Brost zu mir gesagt, dass ich dort nichts mit Politik am Hut haben muss – da war die Sache für mich klar. Ich wurde dann für Reportagen eingesetzt und war glücklich.

In meinem Volontariats-Jahrgang sind wir mehr Frauen als Männer. Wir schreiben über dieselben Themen und werden – zum Glück – gleichbehandelt. Sie waren damals eine der ersten Journalistinnen im Nachkriegsdeutschland. Hatten Sie es als Frau schwer?

Als ich zur WAZ kam, war die Themenverteilung klar festgelegt: Wirtschaft für den Mann, Mode für die Frau. Ich habe mich aber auch für männliche Themen interessiert und hatte deshalb einen Deal mit meinem Kollegen: Er war schwul, das war damals noch nicht erlaubt. Damit das nicht auffiel, haben wir ab und zu so getan, als hätten wir eine Affäre. Im Gegenzug durfte ich manchmal Themen von ihm übernehmen. Eines davon war ‚Braunkohlebagger fressen ein Dorf‘. Ich habe das Thema auf einer großen Seite aufgearbeitet. Am nächsten Tag kam der stellvertretende Chefredakteur zu mir und meinte: ‚Sie wissen doch, dass Ihnen dieses Thema nicht zusteht!‘ Als ich gefragt habe, ob der Text denn sachlich nicht gut geschrieben war, da hat er mich angeschrien: ‚Das spielt keine Rolle, hier geht es ums Prinzip!‘

Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Wie haben Sie es denn geschafft, sich auf Dauer durchzusetzen?

Ich war immer offen und bin auf alle Menschen zugegangen. Das hat mir sehr geholfen. Die Menschen haben mir Sachen anvertraut, die sie meinen männlichen Kollegen vielleicht nicht erzählt hätten. Durch meine guten Kontakte habe ich dann mit der Zeit immer mehr Themen zugeteilt bekommen – und damit meine ich nicht nur Frauenthemen.

Wie konnte man sich den Arbeitsalltag vor 75 Jahren vorstellen?

In der ersten Redaktion in Essen, in der ich gearbeitet habe, waren die Zustände erbärmlich. Es gab rohe Holztische, an denen man sich ständig Splitter geholt hat. Jeder hat am Anfang einen Bleistift bekommen. Damit mussten wir ganz vorsichtig umgehen, damit er besonders lange hält. Bleistifte gab es nämlich nur mit einem Bezugsschein, im Laden kaufen konnte man das nicht einfach so. In der Anfangszeit habe ich dann meine Geschichten mit Bleistift aufgeschrieben, bis es später genug Schreibmaschinen für alle gab.

Seit der WAZ-Gründung 1948 arbeitete Felicitas Kapteina aus Essen-Werden als Reporterin. Erst mit über 90 Jahren hörte sie auf, für „ihre Zeitung“ zu schreiben.
Seit der WAZ-Gründung 1948 arbeitete Felicitas Kapteina aus Essen-Werden als Reporterin. Erst mit über 90 Jahren hörte sie auf, für „ihre Zeitung“ zu schreiben. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Das sind wirklich verschiedene Welten, in denen wir angefangen haben zu arbeiten. Heute sitze ich in einem modernen Büro in Essen, habe einen höhenverstellbaren Schreibtisch und drei Monitore, auf denen ich gleichzeitig arbeite. Immer griffbereit daneben: Mein Handy.

Das, was heute das Smartphone ist, war damals der Bleistift – den hatte ich immer bei mir und habe gut darauf aufgepasst. In meinen jungen Jahren war für den Druck einer Zeitung auch das Arbeiten mit Bleisatz noch ganz normal. Das kann sich ja heute keiner mehr vorstellen! Damals wurden einzelne Lettern zu Texten und dann zu einer vollständigen Seite zusammengesetzt, damit diese gedruckt werden konnte. Danach konnten die Lettern wieder umgesetzt werden für die nächste Seite.

Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Erinnern Sie sich noch an den Moment, als sie dann das erste Mal von Computern gehört haben?

Ja klar, als wäre es gestern gewesen! Ich habe diesen technischen Kram total abgelehnt, elektronische Geräte waren mir am Anfang unheimlich. Ich war damals auch schon über 60 Jahre alt. Die Umstellung, plötzlich an einem Computer zu schreiben, war wahrscheinlich die schwierigste in meiner gesamten journalistischen Laufbahn.

Aber Sie haben gelernt, damit umzugehen?

Ein Kollege kam drei Mal die Woche zu mir nach Hause und hat mir das Gröbste beigebracht. Ich habe zu ihm gesagt: ‚Du musst mir das so erklären, als wenn du ein sechsjähriges lernbehindertes Kind vor dir hättest. Anders werde ich das nicht begreifen‘. Nach vielen Wochen konnte ich den Computer pragmatisch bedienen, aber gut darin war ich nie. Wenn ich dann an die ganzen Smartphones heute denke, das finde ich grauslig.

Dabei erleichtert einem der Computer oder auch das Smartphone ja vieles. Gerade können wir uns zum Beispiel in Ruhe unterhalten, ohne dass ich alles mitschreiben muss. Mein Handy liegt neben uns auf dem Tisch und zeichnet das Gespräch auf, sodass ich mir später in Ruhe alles anhören kann.

Ja dein Handy kann bestimmt viele tolle Sachen. Aber damit umzugehen, überlasse ich lieber dir.

Auch wenn wir jeden Tag anderen spannende Geschichten hören, bleiben uns manche Gespräche ja besonders im Kopf. Ich werde mich wahrscheinlich mein Leben lang an ein Gespräch erinnern, dass ich im März 2022 geführt habe, kurz nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine. Für mich war das damals total unwirklich: Es herrscht Krieg in Europa. Ich habe mich dann mit einer 19-jährigen Ukrainerin unterhalten, die gerade unglaublich schreckliche Sachen erlebt hat. Die Geschichte hat mich bis heute nicht losgelassen. Gibt es eine Geschichte, die Sie besonders emotional mitgenommen hat?

Ohja, das muss so in den 70er Jahren gewesen sein. Damals waren Organ-Transplantationen noch ganz neu und ich habe einen Artikel über eine Herz-Transplantation an einer Essener Klinik geschrieben. Die Geschichte war so schrecklich traurig und wunderschön zugleich. Ein Kind aus Essen war vom Balkon gefallen und konnte leider nicht mehr gerettet werden. Gleichzeitig hat ein herzkrankes Kind in Wien dringend ein Spenderherz benötigt. Die ganze Geschichte hat mich unglaublich nachdenklich gemacht, weil es so viel Freude und Leid gleichzeitig gab. Ich habe die trauernde Mutter des Kindes gesehen, das gerade gestorben war, das war schrecklich. Und auf der anderen Seite war die Freude riesengroß, als die Transplantation gut verlaufen ist und das Kind in Wien weiterleben durfte mit dem neuen Herzen.

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Dieser Beitrag erscheint anlässlich des 75. Geburtstages der WAZ. Alle Artikel zum Jubiläum finden Sie unter waz.de/75jahrewaz. Unsere große Jubiläumsausgabe können Sie auch online durchblättern als digitales „Flipbook“: waz.de/jubilaeum.