Essen. Bei Arbeitskämpfen in Hattingen und Rheinhausen rückten die Menschen zusammen. Erstmals sollte es Massenentlassungen in der Stahlindustrie geben.
Das alte Ruhrgebiet, es starb Ende der 80er Jahre – in zwei legendären Arbeitskämpfen. Die monatelangen Aufstände der Stahlwerker gegen die Hüttenschließungen in Hattingen und Rheinhausen waren das verzweifelte Aufbegehren stolzer und selbstbewusster Belegschaften gegen ihr Schicksal. „Taschenrechner in Menschengestalt“ nannten die Arbeiter die Manager von Thyssen und Krupp, die mit Stilllegungsbeschlüssen auf die weltweite Überproduktionskrise beim Stahl reagierten.
Die Nachricht, dass die traditionsreiche Henrichshütte stillgelegt werden sollte, traf die Hattinger am 19. Februar 1987, dem „schwarzen Donnerstag“. Erstmals sollte es Massenentlassungen in der Stahlindustrie geben. 3000 Arbeitsplätze und 400 Ausbildungsstellen standen auf dem Spiel.
Die ganze Stadtstand unter Schock
Die ganze Stadt, die ökonomisch und menschlich mit der Hütte eng verwoben war, stand unter Schock. Doch diese nur scheinbare Hilflosigkeit ließ die Menschen ganz eng zusammenrücken, ließ sie Formen des Widerstandes entwickeln, wie sie die Republik bis dahin noch nicht erlebt hatte. Das ganze Land schaute gebannt auf das kleine Städtchen an der Ruhr, in dem man sich nicht widerstandslos ergeben wollte. Denn es ging bei dem Kampf – natürlich – um den Erhalt der Hütte, es ging aber ebenso um Würde. „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren“. Dieser Spruch, später oft nur noch als Phrase gebraucht, hier hatte er Bedeutung.
Wer die Heftigkeit des Widerstandes in Hattingen – und wenig später in Rheinhausen – erklären will, muss natürlich zuerst auf jene Männer verweisen, die – ähnlich wie die Bergleute – so stolz waren auf ihre Arbeit. Diese Arbeit in Schmutz und Staub, bei zugiger Kälte und großer Hitze am Hochofen, deren Faszination sich Außenstehenden kaum erschließen mag. Stahlarbeiter und Bergleute, der Adel des Reviers.
Der Widerstand aber sprengte schon in kürzester Zeit die (fast) reine Männerwelt der Henrichshütte. Rasch bildeten sich Frauen-, Jugend- und Senioreninitiativen. Menschenketten wurden organisiert, Autokorsos, ein „Dorf des Widerstands“, die Frauen traten in den Hungerstreik. Die ganze Stadt stand hinter den Stahlwerkern – die Brotfachverkäuferin, der Bäcker, die Architektin. Alle wussten: Ohne Hütte geht hier vieles den Bach runter.
Hattinger Protest fand bundesweit große Beachtung
Der Hattinger Protest fand bundesweit große Beachtung. Er war zäh und fantasievoll. Aber war er auch ein Erfolg? Ende Juni 1987 wurde der Stilllegungsbeschluss bestätigt. Doch die Hattinger hatten dem Konzern und der Politik durch ihren Kampf umfangreiche Zugeständnisse abgetrotzt.
So wurde auf betriebsbedingte Kündigungen verzichtet, man einigte sich auf Frühpensionierungen, „freiwilliges“ Ausscheiden und Versetzungen. Das Land legte das millionenschwere Programm „Zukunftsinitiative Montanregion“ auf. Das Gelände der Henrichshütte beherbergt heute ein Museum. Das beschäftigt sich mit der Geschichte des Werks – und mit dem letzten Arbeitskampf.
Der Arbeitskampf in Hattingen, der breit gefächerte Widerstand, konnte den Menschen in Rheinhausen als Blaupause dienen, als am 26. November 1987 die Nachricht vom geplanten Aus für das riesige Krupp-Werk am Rhein die Runde machte. Die Erschütterung war riesig, die Stimmung schwankte zwischen Wut und Resignation.
Aufstand der Kruppianer
Es war dann vor allem eine Rede, die den Aufstand der Kruppianer entfachte, die ihm den Kompass gab und dessen Heftigkeit begründende. Krupp-Obermeister Helmut Laakmann tritt vor die 10.000 Menschen in der Werkshalle auf. Er, der zur Führungsschicht des Werks gehört, spricht schneidend klare Worte, die lange nachhallen: „Es kann nicht sein, dass eine kleine Clique, eine kleine Mafia, mit den Menschen in diesem Land macht, was sie will“, ruft er. Und: „Ab jetzt gilt: Auge um Auge und Zahn um Zahn.“ Niemand, der dabei war, wird diese Worte je vergessen. Sie sind Startsignal zum größten und erbittertsten Arbeitskampf der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er wird 160 Tage dauern. Das Werk steht in dieser Zeit fast still, die Belegschaft ist im Dauer-Ausstand.
Der Widerstand ist radikal und fantasievoll. Er verändert die Menschen. Tausende besetzen Brücken und blockieren Autobahnen, stürmen die Verwaltung von Krupp-Stahl in Bochum und sogar das „Allerheiligste“, die Villa Hügel in Essen. Baggerführer produzieren Videos, andere machen Radio aus der Dachstube. Zuerst rückt die Stadt zusammen, dann das ganze Revier. Der Protest steckt an, fasziniert. Journalisten aus aller Welt reisen an, über Wochen dominiert der Aufstand der Kruppianer die Nachrichten in Deutschland. So etwas hatte die Republik noch nicht gesehen – und so etwas wird sie wohl nie wieder sehen.
Und wieder schließen sich breite Schichten der Bürger an
Und wieder schließen sich breite Schichten der Bürger an. Tausende sind täglich auf den Straßen, geben einander Halt. Ohne Stahl sehen viele keine Zukunft fürs Revier. Auch Polizisten in Uniform stellen sich in die erste Reihe der Demonstranten und machen bei Blockaden mit. Die Herzen fliegen ihnen zu. Im Februar bilden rund 100.000 Menschen im Ruhrgebiet eine Menschenkette – von Rheinhausen bis zu Hoesch in Dortmund. Das Revier steht zusammen, welch ein Symbol.
Auch in Rheinhausen endet der erbitterte Kampf mit einem Kompromiss. Auf die sofortige Schließung wird verzichtet, ebenso auf Massenentlassungen. Und doch ist das Aus für die Stahlproduktion besiegelt. Heute hat auf dem ehemaligen Hüttengelände am Rhein vor allem die Logistikbranche ein neues attraktives Zuhause gefunden.
„Wenn es an der Ruhr brennt, hat der Rhein nicht genug Wasser, um die Flammen zu löschen“, hat Konrad Adenauer einmal gesagt. Wer die Kämpfe in Hattingen und Rheinhausen erlebt hat, ahnt, was Adenauer meinte.