Essen. . Das Franz Sales Haus macht sich zum Fürsprecher des Missbrauchsopfer der 50er- und 60er-Jahre und kämpft für deren Rentenansprüche.
Es könnte so etwas wie ein Schlussstrich sein unter einen Skandal. Doch es ist nicht viel mehr als das Ende eines Kapitels. Und dazu ein Neuanfang, wenn das Franz Sales Haus jetzt mit gleich zwei Büchern versucht, die dunkelsten Zeiten der Heimerziehung zu beleuchten. Dort, wo einst düstere Mauern um das Grundstück gezogen waren, sitzen heute Reiner Baldau und Ilse Pauly. Beide haben in ihrer Kindheit in diesem Heim für geistig behinderte Menschen Misshandlungen erfahren, Schläge, Verbrennungen mit dem Bügeleisen, sexuelle Übergriffe, Prügelstrafen, Isolation; vor allem aber Lieblosigkeit und Einsamkeit.
„Wir verdanken demFranz Sales Haus so viel“
Dennoch bringen sie heute diesenen Satz über die Lippen: „Wir verdanken dem Franz Sales Haus so viel“. Und Prof. Wilhelm Damberg, renommierter Historiker von der Ruhr-Universität-Bochum, verabschiedet sich am Ende von den beiden ehemaligen Heimkindern mit dem Satz : „Ich habe viel von Ihnen gelernt.“
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Was ist geschehen? Wie hat ein Haus eine solche Wende geschafft? Ein Haus, das sich seit 128 Jahren um geistig behinderte Menschen kümmert und sich eingestehen muss, dass in den 50er und 60er Jahren viel Schreckliches und Brutales hinter den düsteren Mauern geschehen ist. Die Konsequenz der Aufarbeitung imponiert den Historikern aus Bochum und Dennoch imponiert die Aufarbeitung den ,Historikern und sie scheint viele der Opfer mit dem Haus zu versöhnen.
Vielleicht liegt es daran, dass Günter Oelscher, heute Direktor des Hauses, sehr deutlich macht, dass immer noch nicht alles in Ordnung ist. Dass es immer noch Risse, Narben und Wunden gibt. Dass es nicht reicht, die dunklen Mauern um das große Grundstück abzureißen und hinter der historischen Fassade einen Neubau zu errichten. Vielleicht, weil er betont, dass man immer noch kämpfen muss. Um den Opfern von damals zu helfen und die Weichen zu stellen zu einem „Nie wieder!“
Das derzeit größte Problem: Menschen wie Ilse Pauly und Reiner Baldau sind damals als „schwachsinnig“ eingestuft worden, die brutale Wortwahl für „geistig behindert“. Wer heute dem Handwerker des Folkwangmuseums gegenüber sitzt, der gerade sein 25-jähriges Dienstjubiläum gefeiert hat oder mit der 70-jährigen, schlagfertigen Ilse Pauly plaudert, erkennt, dass nur eines schwachsinnig ist: die Diagnose.
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Doch sie hängt den beiden wie ein Klotz am Bein. Wer damals im Heim arbeitete und lebte, hat heute Ansprüche an den Fonds „Heimerziehung West“. Der bezahlt beispielsweise Therapien und stockt Renten auf – ist aber für Behinderte nicht zuständig. Und die unselige Einstufung vor 40, 50 oder 60 Jahren durch Ärzte, die Medizin mit der NS-Rassenlehre im Ranzen lernten, hat bürokratische Wirkung bis heute.
Dagegen schreiten die Opfer von einst und die Einrichtung der Täter von einst Seite an Seite – verhandeln mit dem Bundesarbeitsministerium, wenden sich mit Petitionen an Landtag und Bundestag. Das ist der nächste Schritt in einer ganzen Reihe von Hilfen, die das Franz-Sales-Haus für die Opfer auf die Beine gestellt hat.
Als vor drei Jahren die Qualen der Heimkinder im Deutschland der 50er und 60er Jahre deutlich wurden, hat das Haus einen Ansprechpartner benannt. Mehr als 80 Opfer haben sich gemeldet, in 32 Fällen hat das Haus die Staatsanwaltschaft verständigt, die wegen Verjährung nicht tätig wurde. Mit einem Runden Tisch für die Opfer hat das Haus ein neues Medium gefunden, hat die Kirche, die Polizei, den Orden, der damals die leider oft unbarmherzigen Schwestern stellte, eingebunden. Das Haus hat Therapien bezahlt und Anträge an Opferfonds des Bistums unterstützt und tut dies auch weiterhin.
Das Haus der Täter wirdzum Anwalt der Opfer
Das ist wichtig, noch wichtiger ist allerdings etwas anderes: „Vor allem haben sie uns geglaubt“, sagen Ilse Pauly und Reiner Baldau übereinstimmend. Sie fühlen sich mit ihrer Leidensgeschichte ernst genommen und aufgenommen. „Früher konnte ich nicht am Franz-Sales-Haus vorbeigehen“, sagt Ilse Pauly. Heute sitzt sie im Konferenzraum und verteidigt das Haus, wenn die Journalisten in ihren Augen zu kritisch nachfragen. So haben sie sich beide gewandelt: Das Haus der einstigen Täter ist zum Anwalt der Opfer geworden. Und so können aus Opfern Verteidiger werden. Für einen Kampf, der auch in Zukunft weitergehen wird. Heute sind die Pflegekräfte bereits wieder am Limit, betont Günter Oelscher. Und Historiker Prof. Dambeck macht deutlich: „Der Zusammenhang zwischen Überforderung des Pflegepersonals, mangelnder Transparenz und Missbrauch ist klar zu sehen. Kein Politiker wird in Zukunft sagen können, er habe das nicht gewusst.“