Essen. Unter dem Ruhrgebiet lebt die Erde. Die Bezirksregierung lässt bohren, um Probleme zu erkennen. Alte Schächte werden mit Zement verfüllt.

Friedhelm Timmer war noch ein kleiner Junge, da war Schacht Lina schon alt und verbraucht und verfüllt – zumindest irgendwie. „Ganz früher stand ein Kirschbaum auf der Füllung“ erinnert sich der 78-jährige Bauer. Doch in den letzten Jahren veränderte sich die Stelle, an der Lina mit der Erdoberfläche abschloss: „Da bildete sich langsam so eine Art Delle“, sagt Timmer. Die Erde lebt.

Nur gut, dass vor vier Wochen das Bergamt schellte. Lina galt als verdächtig. Schon rein nach Kartenlage.

Dies ist die Kleinbeckstraße, in Obersprockhövel. Hier sieht das Revier zwar aus wie das Bergische Land, aber Revier ist es dann doch: ausgekohlt und unterhöhlt. „Die Bewegung hatte schon begonnen, das hätte hier vierzig Meter absacken können“, sagt Peter Hogrebe, Dezernent für Altbergbau beim Regierungspräsidium Arnsberg.

52 Meter tief reicht Lina, verfüllt war nur ein Drittel; doch nun liegen auf Paletten am Straßenrand viele, viele Säcke Zement, die Lina schlucken muss. Damit sie Ruhe gibt! „Wir sind schon froh, dass nichts passiert ist“, sagt Renate Timmer.

Raupen mit Bohrern, Dixi-Klos, ein Generator tuckert

Die Kleinbeckstraße ist nicht überall, das wäre grob übertrieben. Und doch bohrt die Bezirksregierung derzeit an fünf Stellen im Ruhrgebiet, und viele weitere werden folgen: alles alte Schächte, die als „möglicherweise risikobehaftet“ gelten und dann verfüllt werden müssen.

Das Risiko heißt Tagesbruch: wo die Erde sich auftut, wo der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Etwa 60 Mal passiert das jedes Jahr im Ruhrgebiet, die meisten Fälle sind unspektakulär, Löchlein draußen im Walde; aber manche auch sehr bekannt. Doch in diesem präventiven Fall beruhigt Christian Chmel, der Sprecher der Bezirksregierung: „Das sind rein vorbeugende Maßnahmen, niemand muss sich Sorgen machen.“ Zunächst sind 20 Schächte ausgewählt in Bochum und Dortmund, Essen, Witten und Wetter; genau benennen will die Behörde sie noch nicht, um die Anlieger nicht verrückt zu machen.

Da sieht es dann so aus wie in der Hingbergstraße in Mülheim schon jetzt, wo, wie berichtet, unter einem U-Bahnhof Hohlräume vermutet werden. Nichts fährt mehr. Querstraßen heißen hier „An der Seilfahrt“, „Dickebank“ oder „Finefrau“: Das sagt ja wohl schon alles. Die Straße ist teilweise gesperrt, schweres Gerät steht da, Raupen mit Bohrern, Dixi-Klos, ein Generator tuckert; die engere Baustelle ist umstellt von Absperrgittern und rot-weißem Flatterband. Auch hier so viel Zement!

Schon 1848 Schächte überprüft

„Begeistert sind die Leute nicht, aber Sicherheit geht vor“, sagt der Mann im nahen „Manni’s Büdchen“. Aber dass die Nachbarn unruhig wären, kann man nicht behaupten: „Kein Problem“, sagt Iris Kadereit, die gerade in ihrem Vorgarten die Blumen zupft, ganze fünf Meter von der Baustelle entfernt. Und auf der gesperrten Straße spielen Kinder Fußball, über den mutmaßlichen Hohlräumen eines Flözes namens: „Kinderberg“.

In den vergangenen Monaten hatte die Bezirkregierung nach Kartenlage 1848 Schächte überprüft, für die kein Bergbau- und kein Nachfolgeunternehmen mehr geradesteht: Sie fallen dann sozusagen unter die Vormundschaft des Landes. Das Ergebnis: Jene 20 potenziellen Gefährder werden bis Frühjahr oder Sommer 2012 verfüllt, weitere bis zu 180 schließen noch daran an. Ein Programm auf Jahre, das andere Unternehmen schon hinter sich haben: „Wir haben bereits 2010 unsere Sicherung alter Anlagen abgeschlossen“, sagt in Herne RAG-Sprecher Frank Kremer.

„Wenn wir untergehen, dann als Pfropfen“

Hier bohrt die Bezirksregierung. In Essen unter einer Schule, in Haßlinghausen hinter einem früheren Gasthof ... Wie das ausgeht? Am besten wie in der Emilstraße im Bochumer Westen, Schauplatz des spektakulären „Kraters von Höntrop“ aus dem Jahr 2000: Zwei Autos, elf Tannen und eine Garage sog er in die Erde, und alle 29 Anlieger zogen später weg.

Jahrelang bestimmten Laster und Leitungen das Bild, der schuldige Schacht bekam einen Zementpfropfen, und heute ist die Emilstraße wieder eine ruhige Wohnstraße. „Da sieht man nicht mehr viel von“, sagen Anlieger; gefragt, wo der Krater denn wohl war, überlegen sie und weisen dann in unterschiedliche Richtungen. Vergessen und verheilt. Heute kann man das wieder locker sehen. „Wenn wir untergehen, dann als Pfropfen“, sagt eine 46-jährige Frau. Und lacht herzlich.