Duisburg. Die Eltern denken, sie hätten einen Sohn. Erst nach und nach verstehen sie, dass ihr Kind ein trans* Mädchen ist.
Ein Kindergarten in Duisburg kurz vor Weihnachten. Bei der morgendlichen Runde fragen die Erzieherinnen: „Was wünscht ihr euch?“ Die meisten erzählen von einer besonders schönen Puppe oder einem richtig coolen Bagger. Doch plötzlich platzt es aus einem Kind förmlich heraus: „Ich wünsche mir eine Scheide.“ Das Kind heißt zu diesem Zeitpunkt Henrik*, hat einen Penis und möchte unbedingt ein Mädchen sein.
Damit gehört es zu den 60.000 bis 100.000 trans* Menschen, die es nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti) in ganz Deutschland gibt. Viele von ihnen haben mit alltäglicher Diskriminierung zu tun. Und die beginnt manchmal schon im Kindergarten.
Eiskönigin Elsa ist das große Vorbild
Dass sich Henriks Herzenswunsch schon seit Jahren aufgebaut hat, weiß niemand so gut wie seine Mutter Susann. „Es fing alles an, als Henrik zwei Jahre alt war“, erzählt sie viele Monate nach dem Vorfall im Kindergarten. „Aber da habe ich mir noch nicht so viele Gedanken gemacht. Es ist ja nicht schlimm, wenn Jungs Pink oder Rosa mögen.“ Denn, das möchte sie direkt zu Beginn betonen: „Nicht jedes Kind, das Pink und Glitzer mag oder extreme Stereotypen auslebt, ist ein trans* Kind.“
Nur bleibt es bei Henrik nicht bei einer für Jungs in der heutigen Gesellschaft eher ungewöhnlichen Lieblingsfarbe. „Darf ich ein Kleid tragen?“, fragt er eines Tages seine Mutter. „Klar, zu Karneval auf jeden Fall“, antwortet sie ihm. Susann findet es nicht weiter schlimm, dass sich ihr kleiner Junge gerne als Eiskönigin Elsa verkleiden möchte. Immerhin habe auch ihr älterer Sohn für einige Monate mal mit Puppen gespielt. Das sei sicher eine Phase, bedingt durch die vielen Mädchen in seiner Kindergartengruppe, denkt sie.
Die Eltern kommen ins Grübeln
Doch als Henrik auch im Alltag ein pinkes T-Shirt tragen möchte, muss sich Susann erst von den Erzieherinnen überzeugen lassen, dass das vollkommen in Ordnung sei. „Ich war damals noch nicht so weit“, gibt sie später zu. Aber sie vertraut auf den Rat der Pädagoginnen und erlaubt ihrem Kind, Kleider zu tragen. Tatsächlich blüht Henrik auf – das Kind, das in den Jahren zuvor nie Freude gezeigt hat und dem die Ärzte Autismus diagnostiziert haben.
Susann realisiert langsam, das in ihrem kleinen Jungen tatsächlich ein Mädchen stecken könnte. „Aber sie hat sich mit ihren kurzen Haaren und ihrem Jungennamen in der Rolle eines Mädchen noch ziemlich unwohl gefühlt“, erklärt sie. Henrik, die nicht mehr Henrik heißen möchte, isst nicht. Vier Wochen verbringt sie deshalb im Krankenhaus. Eine lange Zeit, in der sie und vor allem ihre Eltern ins Grübeln kommen. „Uns hat in der Zeit niemand reingeredet und wir haben ihr alles erlaubt, was auch Mädchen dürfen“, so Susann. Ohrringe, Haarreifen, Puppen. „Sie war so glücklich.“
Familienmitglieder brechen den Kontakt ab
Das ist der Punkt, an dem die Eltern zu Henrik sagen: „Du kannst deinen Namen ändern.“ Doch welchen Namen gibt sich ein fünfjähriges Kind selbst? „Ich will Elsa heißen“, erklärt sie. „Was wäre mit dem Namen Hanna?“, schlägt ihr Vater stattdessen vor. Die Erleichterung ist bei allen groß, sie haben einen wichtigen Schritt gemacht.
Doch dann kommen die Blicke in der Nachbarschaft, die Ablehnung in der eigenen Familie. Hannas Patentante bricht den Kontakt zur Familie ab. Denn, so sagt sie: „Kinder sind zu jung, um so etwas zu wissen.“ Susann weint viel, fühlt sich ungerecht behandelt. „Die Leute haben es so hingestellt, als ob das alles ein großer Spaß sei. Aber wieso sollte man sich freiwillig den Hatern so aussetzen?“
Die Mutter verliert ihren Sohn
Und dann ist da noch etwas, das nicht leicht für Susann ist: „Ich habe auch meinen Henrik verloren. Es ist fast so, als ob er gestorben wäre.“ Ihre Stimme ist belegt, sie muss sich räuspern. „Ich weiß, dass das eigentlich Blödsinn ist.“ Aber es fühle sich eben doch ein bisschen so an. „Natürlich will ich meinen Henrik haben. Aber ich will auch nicht, dass mein Kind unglücklich ist.“ Und ihr Kind sei nun mal nur als Hanna glücklich.
„Eltern sollten ihre Kinder ausleben lassen“
Trans* Menschen betrachten sich nicht ihrem bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht zugehörig. Dazu zählen zum Beispiel Menschen, die eine geschlechtsangleichende Operation anstreben, aber auch Menschen, die sich geschlechtlich nicht verorten lassen möchten. Das Sternchen in trans* soll daher verschiedene geschlechtliche Identitäten ansprechen.
Bereits Kindergartenkinder können diese geschlechtliche Nichtübereinstimmung wahrnehmen, erklärt Petra Weitzel von dgti. „Im Durchschnitt merken es Kinder mit etwa acht Jahren, meist bis zum Beginn der Pubertät, aber auch im Erwachsenenalter kann die Selbsterkenntnis noch kommen.“
Eltern von trans* Kindern rät Weitzel: „Um der Gesundheit willen sollten Eltern ihre Kinder ausleben lassen.“ Ansonsten sei die Gefahr groß, dass das Kind später an Depressionen erkranke.
„Im Regelfall unterstützen Jugendämter trans* Kinder“, weiß Weitzel aus Erfahrung. „Aber natürlich gibt es auch Ausnahmen.“ In solchen Fällen könnten Familien einzelne Expert*innen der dgti beratend hinzuziehen.
Die Familie trifft sich mit verschiedenen Psychotherapeuten, die ihnen Mut machen. Auch im Kindergarten läuft es zunächst gut. An der Garderobe hängt ein neues Schild mit neuem Namen. Die Erzieherinnen erklären in der morgendlichen Runde, dass Henrik jetzt Hanna heißt. „Ich dachte, dass wir endlich den Umschwung geschafft hätten“, erzählt Susann. „Aber dann wurde alles viel schlimmer.“
Das Jugendamt schaltet sich ein
Susann vermutet, dass sich andere Familien bei den Erzieherinnen beschwert haben könnten. Denn auf einmal habe die Kindergartenleiterin erklärt, dass sie die Namensänderung doch nicht dulde. „Erst haben sie Druck auf uns ausgeübt und dann haben sie es so hingestellt, als ob ich nicht ganz bei Sinnen wäre“, sagt Susann. „Und dann haben wir vom Jugendamt einen Brief bekommen, in dem das Wohl des Kindes in Frage gestellt wurde.“
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Ein Schock für die ganze Familie. „Bei dem Termin mit dem Jugendamt habe ich am ganzen Körper gezittert“, sagt Susann. Die Angst ist ihr heute noch anzuhören. „Die Erzieherinnen und Leiterin haben Dinge verdreht. Und das Jugendamt war natürlich auf deren Seite.“ Eine Expertin von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti) unterstützt die Familie während des Gesprächs und erklärt, dass sich Transgender sehr wohl in der frühen Kindheit bemerkbar machen könne. Dass es eine solche Aufklärung überhaupt bedarf, stimmt Susann fassungslos: „Wieso macht sich eine so hohe Behörde nicht vorher schlau?“
Die Familie will anderen Familien Mut machen
Was folgt, sind monatelange Kontrollen und zahlreiche Gespräche. Doch weil alle Ärzte das Gleiche bestätigen, dass Hanna eben viel glücklicher als Hanna ist, gibt das Jugendamt irgendwann Ruhe. „Wäre das nicht so abgelaufen, wäre Hanna heute nicht mehr bei uns“, sagt Susann. „Das war die schlimmste Zeit meines Lebens.“
Heute besucht Hanna einen anderen Kindergarten. Dort akzeptieren sie alle als das Mädchen, das sie eigentlich schon immer gewesen ist. Hanna isst wieder normal und selbst ihre Autismus-Symptome haben sich minimalisiert. Dadurch ist auch ihre Mutter Susann gelassener geworden: „Ich hatte immer das Gefühl, dass ich sie beschützen muss. Heute weiß ich, dass ich das gar nicht muss.“ Sie fühle sich stark, denn, das sagt sie selbst: „Ich weiß, dass wir alles richtig gemacht haben.“
Susann möchte anderen Familien mit ihrer und Hannas Geschichte Mut machen. „Wenn man sich nicht unterkriegen lässt und für sein Kind kämpft, wird alles gut“, sagt sie. Und dann ist da noch eine letzte Frage – die, nach ihren eigenen Wünschen. Susann überlegt kurz und antwortet dann: „Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft toleranter wird.“
*Die Namen aller Beteiligten sind geändert und der Redaktion bekannt.