Duisburg. . Joy und Carine sind aus Afrika nach NRW gekommen. Sie wurden zur Prostitution gezwungen. Das Schicksal teilen sie mit vielen anderen Frauen.

Carines Alptraum endete am Duisburger Bahnhof. Zitternd und verwirrt stand sie dort in dem dünnen, viel zu kurzen Rock, barfuß, ohne Geld, entsorgt wie ein lästig gewordenes Haustier. Einer ihrer Freier hatte sie geschwängert. Das ist schlecht für das Geschäft. Vier Monate lang hatte sie zuvor für ihre Madame anschaffen müssen. Carine stammt aus Kamerun, ihre Reise nach Deutschland führte sie in die Fänge von Menschen, die sie zwangen, sich zu prostituieren. Ein Schicksal, das sie mit vielen anderen Frauen teilt.

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Ein Hinterhof-Gebäude in Duisburg-Hochfeld. Hier sitzt die 29-Jährige an einem adventlich geschmückten Tisch in den Büroräumen von Solwodi, einer Organisation, die sich um Frauen wie Carine kümmert. Dreadlocks, gelber Kapuzenpullover, Jeans, scheues Lächeln, sie wirkt zerbrechlich, ein wenig naiv. Carine ist nicht ihr richtiger Name, sie will anonym bleiben, weil sie Angst hat. Neben ihr sitzen Joy aus Nigeria, die ähnliches erlebt hat, und Barbara Wellner. Sie betreut die beiden Frauen.

Die Geschichte von Carine beginnt in einem Dorf im englischsprachigen Teil Kameruns. Die englischsprachige Minderheit fühlt sich seit Jahren von der frankophonen Mehrheit benachteiligt, der Konflikt nimmt seit einigen Jahren an Schärfe zu. Mit 18 Jahren zog Carine in die nahe Stadt. Die Schule hatte sie abgebrochen. In der Stadt fand sie Arbeit, Promotion für eine Mobilfunkfirma.

Mehr Hilfe für die Opfer von Menschenhandel

Mehr Geld für Beratungsstellen

Die Landesregierung will im kommenden Jahr mehr Geld für Beratungsstellen zur Verfügung stellen, die sich für die Opfer von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung einsetzen.

668.000 Euro mehr

Im Haushaltsentwurf für 2019 sind insgesamt 1,7 Millionen Euro für die landesweit acht Beratungsstellen vorgesehen, rund 668.000 Euro mehr als im laufenden Jahr.

16,5 Stellen

Darin enthalten ist eine Erhöhung von zwölf auf insgesamt 16,5 Stellen.

Schutz und Hilfe für die Opfer

„Die Beratungsstellen sind wichtige Anlaufpunkte für alle, die von Menschenhandel betroffen sind, die Angst haben und Schutz und Hilfe brauchen“, sagte Gleichstellungsministerin Ina Scharrenbach (CDU) der NRZ.

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Sie brachte zwei Kinder zu Welt, ihr Ältester wurde krank, Krebs zerfraß eines seiner Augen. Dann kam der Herbst 2017, in dem englischsprachige Separatisten das unabhängige „Ambazonien“ ausriefen. Die Staatsgewalt schlug zurück. Schüsse hallten durch die Stadt, Tränengasschwaden waberten durch die Straßen. „Ich habe sehr viel Gewalt gesehen“, erzählt Carine.

Sie erinnerte sich an eine Verwandte in Deutschland. „Sie hat mir erzählt, dass das Leben dort ganz anders ist als in Kamerun, aber dass es besser wäre, wenn ich eine Schulausbildung hätte.“ Carine schlug den Ratschlag in den Wind. „Ich wollte dorthin, wo es sicherer ist, und wo ich Geld verdienen kann, damit mein Junge eine Behandlung und eine Prothese bekommt.“ Als sie über ihren Sohn spricht, kommen die Tränen.

Carine organisierte sich ein Visum für Deutschland und kam mit dem Flugzeug, sie landete in Düsseldorf. Die meisten Frauen aus dem Afrika südlich der Sahara müssen einen beschwerlicheren Weg nach Deutschland nehmen. „Viele kommen über den Landweg und über das Meer“, berichtet Barbara Wellner. Für Frauen ist die Flucht besonders gefährlich: „Vergewaltigungen sind völlig normal.“

Hunderte Frauen demonstrieren gegen moderne Sklaverei

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    Häufig wird den Frauen in ihren Heimatländern das Blaue vom Himmel versprochen. Sie könnten als Haushaltshilfen oder in Hotels viel Geld machen. Genug, um die 30.000 bis 60.000 Euro schnell abzuarbeiten, mit denen sie über Nacht bei den Organisatoren ihrer Flucht in der Kreide stehen. Sobald sie europäisches Festland betreten, beginnt für sie eine Tortur.

    In Italien werden sie schon in Camps angeworben, oft mit brutaler körperlicher oder mit psychischer Gewalt gefügig gemacht, auf die Straße zum Anschaffen geschickt und dann weiterverkauft. Menschenhandel ist ein Milliardengeschäft.

    130 Opfer von Zwangsprostitutionkonnten 2017 gerettet

    Joy, eine selbstbewusste Frau, 34, kommt aus Nigeria, dem Land, aus dem 2017 gut ein Fünftel der 130 Opfer von Zwangsprostitution stammten, die in NRW von der Polizei aus Privatwohnungen und Bordellen gerettet wurden. Sie kam 2015, auch mit einem Visum. „Ich habe als Buchhalterin gearbeitet, bin entlassen worden und habe in Nigeria keine Arbeit mehr gefunden. Leute, die schon in Europa waren, berichteten mir, dass in Deutschland alles besser sei.“

    Beide Frauen landeten hart in der Realität.

    Carines Verwandte, bei der sie zunächst in Köln wohnte, warf sie nach wenigen Wochen raus. Zwei afrikanische Frauen, die sie in einem Café traf, überredeten sie, mit ihnen zu kommen. „Sie sagten, sie wüssten, wie ich Geld verdienen kann.“ Die junge Frau landete in einem Bordell im Ruhrgebiet, geführt von einer Frau, der Madame.

    Abschiebung nach den Opferaussagen

    Die Madame nahm Carine ihr restliches Geld ab, ihren Pass, ihr Telefon. Überraschend viele der Tatverdächtigen in Verfahren wegen Zwangsprostitution sind Frauen, etwa ein Viertel. Fast immer sind es Afrikanerinnen. Manche machen ihre Opfer mit Juju abhängig, einer Art Voodoo-Zauber. Joy lernte einen deutschen Mann kennen. Es war keine Liebe. „Er hat mich eingesperrt und an andere Männer weitergegeben.“

    Barbara Wellner möchte nicht, dass die Frauen Details ihres Martyriums ausbreiten. Es könnte Wunden aufbrechen lassen. Die beiden sind aber nicht zerbrochen, anders als viele der jungen Frauen aus Osteuropa, die einen Großteil der Opfer von Zwangsprostitution ausmachen. „Da ist häufig nichts mehr von der Persönlichkeit übrig“, sagt Wellner.

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    Joy konnte sich selbst befreien – wie, verrät sie nicht. Sie will jetzt eine Ausbildung zur Altenpflegerin machen, einen Platz hat sie schon gefunden. Ob das funktioniert, weiß Barbara Wellner nicht. „Häufig werden die Frauen abgeschoben, wenn sie ihre Opferaussagen gemacht haben.“ Manchmal würden sie gemäß der europäischen Dublin-Richtlinien nach Italien geschickt, in die Lager, in denen für viele der Horror begann.

    Carine weiß noch nicht, wie es weitergeht. Sie will nur ihre Kinder wiedersehen. „Ich weiß nicht, was morgen geschehen wird“, sagt sie leise. Acht Frauen leben derzeit in den Schutzwohnungen von Solwodi in Duisburg. Zwei Osteuropäerinnen, sechs Afrikanerinnen. Luftlinie einen Kilometer weiter schimmert das bläuliche Licht des Laufhauses an der Vulkanstraße, wo Dutzende Frauen anschaffen, ob freiwillig oder unfreiwillig „Eigentlich ist das kein guter Ort für uns hier“, sagt Frau Wellner.