Essen. Das Gesetz und das persönliche Rechtsempfinden driften mitunter auseinander. Vor allem wenn Beschuldigte schnell aus der U-Haft entlassen werden.

"Die Polizei schnappt die “Spitzbuben“, riskiert in den meisten Fällen dabei ihre Gesundheit und ihre Unversehrtheit und nach ein paar Stunden lässt ein Richter genau diese Personen wieder laufen."

"Die Polizisten müssen sich ja mittlerweile verarscht bei ihrem Dienst vorkommen. Die Straftäter sind ja schneller wieder draußen und machen weiter als sie festgesetzt wurden."

Es sind Sätze wie diese, die wir als Redaktion häufig von Leserinnen und Lesern zu hören und zu lesen bekommen, wenn die Polizei davon berichtet, dass sie einen Tatverdächtigen wieder aus der Untersuchungshaft entlassen hat. Die Gesetzeslage und das individuelle Rechtsempfinden vieler Bürger sind bei diesem Thema offensichtlich selten im Einklang. Doch was steht eigentlich genau in der deutschen Strafprozessordnung? Wann darf die Polizei einen Tatverdächtigen in Untersuchungshaft einsperren? Wie lange darf die U-Haft maximal dauern? Und wann muss ein Verdächtiger wieder auf freien Fuß gelassen werden?

Voraussetzung für die Anordnung einer Untersuchungshaft durch einen Haftrichter

Strafprozessordnung, 1. Buch - Allgemeine Vorschriften (§§1 - 150), 9. Abschnitt - Verhaftung und vorläufige Festnahme (§§112 - 130)

In §112 "Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe" heißt es:

"Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht."

Ein Haftgrund besteht laut Gesetzgeber, wenn...

  • ... der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält.
  • ... die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen könnte (Fluchtgefahr).
  • ... der begründete Verdacht besteht, dass der Beschuldigte Beweismittel vernichten, verändern, beiseite schaffen, unterdrücken oder fälschen könnte.
  • ... wenn die Gefahr besteht , dass der Verdächtige Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige bedrohen könnte oder andere Personen dazu anstiften könnte.
  • ... wenn deshalb die Gefahr droht, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr).
  • ... Wenn der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten durch einen Beschuldigten besteht, weil "Wiederholungsgefahr" besteht.

Die "Verhältnismäßigkeit" – ein Drahtseilakt der Strafprozessordnung

In der Bundesrepublik Deutschland hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlichen Rang. Unser allgemeiner Freiheitsanspruch gegenüber dem Staat gehört zu unseren Grundrechten. Die öffentliche Gewalt darf die Bürger jeweils nur so weit darin beschränken, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist. Im Zusammenhang mit der Anordnung von U-Haft heißt es in einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts deshalb:

"Bei der ihm hiernach obliegenden Abwägung hat der Richter stets im Auge zu behalten, dass es der vornehmliche Zweck und der eigentliche Rechtfertigungsgrund der Untersuchungshaft sind, die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen; ist sie zu einem dieser Zwecke nicht mehr nötig, so ist es unverhältnismäßig und daher grundsätzlich unzulässig, sie anzuordnen, aufrechtzuerhalten oder zu vollziehen."

"Schwere des Verbrechens rechtfertigt keine Untersuchungshaft"

Bei der Einhaltung der "Verhältnismäßigkeit" ist vor allem dieser Formulierung Ausgangspunkt für viele Diskussionen: "Weder die Schwere des Verbrechens noch die Schwere der - noch nicht festgestellten - Schuld rechtfertigen für sich allein die Verhaftung. Es müssen vielmehr stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Ist die Untersuchungshaft zur Sicherstellung dieser Zwecke nicht mehr nötig, so ist es unverhältnismäßig und daher grundsätzlich unzulässig, sie anzuordnen, aufrechtzuerhalten oder zu vollziehen."

Das kann im Zweifel auch bedeuten, dass etwa ein wegen schwerer Körperverletzung Verdächtiger vorerst wieder auf freien Fuß gelassen wird, obwohl er erst wenige Stunden zuvor mit einem Messer auf eine andere Person eingestochen haben soll.

Wenn die U-Haft für die Aufklärung des Falls also nicht zwingend notwendig ist und dem Richter keine hinreichenden Beweise dafür vorliegen, dass vom Beschuldigten eine konkrete Gefahr für die Gesellschaft ausgeht, dann muss der Richter die Untersuchungshaft aufheben.

  • Gleichwohl kann der Richter aber andere Maßnahmen für eine gewisse Überwachung eines Beschuldigten verfügen:
  • zu festgesetzten Zeiten bei der Polizei melden müssen
  • seinen Pass oder Personalausweis bei den Behörden hinterlegen
  • eigene Wohnung nur in Begleitung von Aufsichtspersonen verlassen
  • eine elektronische Fußfessel tragen

Was bedeutet eigentlich "dringend tatverdächtig"?

Die Polizei berichtet häufig von "dringend tatverdächtigen Personen". Als solcher gilt eine Person, wenn der aktuelle Ermittlungsstand den Schluss zulässt, dass der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer Straftat beteiligt war. Das ist offensichtlich der Fall, wenn eine Person auf frischer Tat betroffen oder verfolgt wird. Ein dringender Tatverdacht kann sich aber auch aus folgenden Umständen ergeben:

  • Zeugenaussagen
  • Vergleichsspuren
  • Tatübereinstimmungen
  • Beweismittel
  • Lichtbilder und Videoaufzeichnungen
  • Geständnisse

Wann besteht aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden Fluchtgefahr?

Haftrichter berücksichtigen bei der Entscheidung für oder gegen eine Untersuchungshaft bei der Fluchtgefahr eines Beschuldigten vor allem folgende Punkte.

Gründe zur Annahme von Fluchtgefahr:

  • kein fester Wohnsitz oder häufig wechselnde Wohnsitze
  • arbeitslos oder häufiger Arbeitsplatzwechsel
  • Flucht in einem früheren Verfahren
  • Zugehörigkeit zu einer verbotenen Vereinigung
  • charakterliche Labilität des Beschuldigten
  • extremistisches Weltbild (Rechts- und Linksextremismus, Salafismus)
  • Neigung zum Glücksspiel oder Drogenmissbrauch
  • Fehlen fester familiärer Bindungen
  • Verbindungen ins Ausland und Vermögen im Ausland

Gegen Fluchtgefahr sprechen:

  • starke familiäre Bindungen
  • attraktiver Arbeitsplatz
  • hohes Alter des Beschuldigten
  • fester Wohnsitz
  • Wohnungseigentum (Haus, Eigentumswohnung, Firma etc.)

Wie lange kann eine Untersuchungshaft dauern?

Grundsätzlich gilt dennoch, dass die maximale Dauer für eine Untersuchungshaft sechs Monate beträgt. Nur bei besonderen Schwierigkeiten oder einem anderen wichtigen Grund darf eine Fortdauer angeordnet werden. Das Oberlandesgericht kann in solchen Fällen die Fortdauer der Untersuchungshaft auch über die Sechsmonatsfrist hinaus verlängern.

Das bedeutet wiederum, dass es in Deutschland keine starren Höchstgrenzen für die U-Haft gibt. Anders als in der USA kann die Untersuchungshaft in Deutschland unbegrenzt lange dauern. In einem Mordverfahren kann die U-Haft z.B. mehrere Jahre andauern. Die Untersuchungshaft darf in der Regel für die Dauer des Ermittlungsverfahrens aufrechterhalten werden. Auch nach Anklageerhebung und während des Hauptverfahrens kann Untersuchungshaft aufrechterhalten werden, wenn weiterhin ein dringender Tatverdacht sowie ein Haftgrund besteht.

Dieser Text wurde das erste Mal am 21. September 2018 publiziert.