Essen. Deutsche Behörden äußern Zweifel an der französischen Untersuchung des Germanwings-Absturzes. Denn konkrete Arzt-Aussagen zur psychischen Erkrankung des Piloten liegen gar nicht vor. Wie krank war Andreas Lubitz wirklich?
Mehr als ein Jahr nach dem Absturz von 4U9525 in den französischen Seealpen brüten Juristen über den materiellen und strafrechtlichen Folgen des Germanwings-Unglücks. In den USA, wo es um den Schadenersatzanspruch der Opfer-Angehörigen gegen die deutsche Fluglinie geht. In Düsseldorf, wo Staatsanwaltschaft Christoph Kumpa vor einem riesigen Aktenberg sitzt.
Die Öffentlichkeit geht seit dem Report der französischen Unfalluntersuchungskommission davon aus, dass der 28-jährige schwer psychisch gestörte Copilot den mit 150 Menschen besetzten Airbus am Morgen des 24. März 2015 in selbstmörderischer Ansicht in die Felsflanken bei Prads-Haute- Bleone gesteuert hat. Niemand hat das überlebt.
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Doch wie krank war Andreas Lubitz wirklich? Es stellt sich heraus: Die Untersuchungsbehörden haben weder Informationen der behandelnden Ärzte noch der Angehörigen des Piloten noch deutscher Prüfbehörden für den am 13. März präsentierten 120 Seiten starken Abschlussbericht verwerten können. Denn alle, die vom Gesundheitszustand des Mannes Genaueres wissen, haben die Aussage verweigert und sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht als Angehörige oder auf die ärztliche Schweigepflicht berufen.
Zweifel an den Schlussfolgerungen der BEA
Sicherheitsexperten der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen (BFU) weisen darauf in einem Brief an ihre Pariser Kollegen hin – und äußern gleichzeitig Zweifel an den Schlussfolgerungen, die die französische Luftsicherheitsbehörde BEA zum Absturz aufgeschrieben hat. Konkret geht es um deren Feststellung, das abrupte Ende des Fluges Barcelona-Düsseldorf, bei dem unter anderem 16 Schülerinnen und Schüler und zwei Lehrerinnen des Halterner Joseph König-Gymnasiums umgekommen sind, sei auf eine „psychotisch-depressive Episode“ des Airbus-Piloten zurückzuführen, die dieser seit Herbst 2014 gehabt habe. Diese Krankheit kann sich unter anderem durch Wahnvorstellungen und Persönlichkeitsstörungen äußern.
In dem zweiseitigen Brief des deutschen Bundesamtes vom 26. Februar unter dem Aktenzeichen UF2 2X001-15, der durchaus auch Einfluss auf die anstehenden juristischen Verfahren haben könnte, warnt die dem Bundesverkehrsministerium unterstehende Behörde generell vor voreiligen Schlussfolgerungen über den Gesundheitszustand des 28-Jährigen. Sie stimme zwar „mit den im Abschlussbericht dargestellten Fakten, der Ursache und mit den herausgegebenen Sicherheitsempfehlungen überein“. Die Diagnosen über Lubitz aber seien „differenzierter zu betrachten“.
Klare psychiatrische Diagnose nicht möglich
„Eine klare psychiatrische Diagnose“ könne gar nicht gestellt werden. Die BFU, die den französischen Kollegen bei den deutschen Aspekten des Falles zugearbeitet hat, habe dazu „die Angehörigen sowie die beteiligten Ärzte und Therapeuten nicht befragen können“. Diese hätten nämlich „von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch“ gemacht oder sich „auf ihre ärztliche Schweigepflicht“ berufen. Selbst das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln, das die psychologische Eingangsuntersuchung des Copiloten durchgeführt habe, berufe sich auf diese Schweigepflicht.
Die Bundesstelle kommt in dem Schreiben zu mehreren eigenen Schlüssen:
- „Eine eindeutige Diagnose konnte nicht mit hinreichender Genauigkeit gestellt werden, da sich in den Unterlagen Angaben fanden, die jeweils für eine gewisse psychische Erkrankung, aber auch dagegen sprechen“. Die aufgetretenen Widersprüche hätten wegen der Aussageverweigerungen nicht geklärt werden können.
- Auch sei „nicht abschließend“ zu klären, ob die wieder aufgetretene psychische Erkrankung von Lubitz ein Rückfall („Rezidiv“) der 2009 festgestellten und geheilten Probleme sei. Allerdings spreche die medizinische Erfahrung für einen Zusammenhang.
Offenbar sind unterschiedliche Einschätzungen während der Erstellung des Berichts schon früh aufgetreten. Denn auch aus dem Untersuchungsreport der Pariser BEA selbst geht hervor, dass die beratende Kommission nicht einstimmig entschieden hat. In ihr waren deutsche Psychologen und Flugmediziner, aber auch französische Psychiater und Psychologen und britische Flugmediziner vertreten. Eine „Mehrheit“ der Expertengruppe sei dann davon ausgegangen, „dass aufgrund der verfügbaren medizinischen Dokumentation von einer psychotisch-depressiven Episode, an der der Copilot litt und die im Dezember 2014 begann und bis zum Unfalltag andauerte, ausgegangen werden könne“, heißt es in dem Abschlussbericht.
Ärzte dürfen in diesem Fall gar nicht aussagen
Vielleicht wird sich nie herausstellen, warum Lubitz so gehandelt hat. Denn Ärzte dürfen nicht nur nicht aussagen, sondern müssen die Aussage verweigern - auch gegenüber staatlichen Untersuchungsgremien oder Gerichten. Die ärztliche Schweigepflicht in Deutschland ist streng. Ärzte und Angehörige von Heilberufen dürfen Dritten grundsätzlich nicht erzählen, was ihnen Patienten im Lauf der Behandlung anvertraut haben. „Nicht rechtswidrig“ ist der Bruch der Schweigepflicht nur dann, wenn aktuell oder in der Zukunft höhere Rechtsgüter konkret gefährdet oder schwerwiegende Straftaten bevorstehen. Aussagen zu Vorgängen in der Vergangenheit, wie die im Fall Germanwings, sind damit tabu.
Selbst das Schweigen vor Gericht ist gesetzlich abgesichert. Der Paragraph 53 der Strafprozessordnung sieht vor, dass Ärzte auch im Prozess die Aussage unter Berufung auf die Schweigepflicht verweigern dürfen. Ausnahme: Es geht um Geldwäsche, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Landesverrat oder um die Gefährdung der äußeren Sicherheit – und dann auch nur, wenn „die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Schuldigen auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre“.
Was im Fall Germanwings keine Rolle spielt: Der mutmaßliche Täter Andreas Lubitz ist mit den anderen Airbus-Insassen am 23. März vergangenen Jahres umgekommen.