Berlin. Jahrelang war Raphaela Spanfelner verzweifelt, weil sie nicht wusste, was mit ihrem Kind nicht stimmt – bis die Diagnose ADHS kam.
Dass ADHS viel mehr ist als ein Zappelphilipp-Syndrom, das weiß Raphaela Spanfelner aus eigener, schmerzvoller Erfahrung. Denn ihr Sohn war schon früh verhaltensauffällig. Mehrere Jahre litt die gesamte Familie darunter, bis er die Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung – kurz ADHS – bekam. „Ich habe mich jahrelang überfordert, verunsichert, komplett erschöpft und voller Selbstzweifel gefühlt“, sagt die 38-Jährige aus Niederbayern.
Dass ihr Sohn starke Emotionen zeigt, merkte Raphaela relativ früh. „Schon mit drei Jahren hatte er extreme Wutanfälle. Gleichzeitig war er hochsensibel, ängstlich und allgemein emotional labil“, erinnert sich die gelernte Erzieherin. Zuerst machte sie das Alter ihres Sohnes für sein Verhalten verantwortlich. Es sei „nur eine Phase“ habe sie oft gedacht, ein anstrengender Zeitraum, der bald überstanden sein würde. Doch es wurde nicht besser, ganz im Gegenteil. „Je älter er wurde, desto schlimmer wurde es. Er war ständig frustriert, schrie stundenlang und war überhaupt nicht mehr zu beruhigen“, erinnert sich die 38-Jährige.
Obwohl Raphaela gelernte Erzieherin ist und mit Kindern arbeitet, hat sie bei ihrem eigenen Kind lange Zeit kein ADHS vermutet. „Zu tief war der Gedanke verwurzelt, dass Betroffene unruhig und eben hyperaktiv sind“, gesteht die 38-Jährige. Ihr Sohn war dagegen oft in sich gekehrt, verträumt und reagierte besonders sensibel auf unvorhergesehene Dinge. „Spontane Besuche waren gar nicht möglich, damit fühlte er sich komplett überfordert“, erzählt Raphaela.
ADHS-Diagnose bei Vorschulkindern besonders schwierig
Tatsächlich ist ADHS nicht leicht zu diagnostizieren und erfordert viel Aufwand, das weiß auch die Neuropsychologin Irina von Komorowski, die an der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee arbeitet. „Sich nur auf die Hyperaktivität als ein Zeichen für ADHS zu verlassen, ist nicht ausreichend“, sagt die Expertin. Denn die Hauptsymptome, dazu gehören motorische Unruhe, impulsives Handeln sowie Konzentrationsprobleme, müssen keineswegs alle gleichzeitig auftreten. „Betroffene können nämlich auch eine versteckte Hyperaktivität aufweisen, sie haben also gelernt, sie zu verbergen. Oder die Hyperaktivität ist bei ihnen gar nicht vorhanden“, erklärt von Komorowski. Hier sprechen Experten dann von ADS.
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Besonders im Vorschulalter ist eine AD(H)S-Diagnose daher besonders schwierig. „Sprunghafte Emotionen im Kindesalter, vor allem bei Kleinkindern, treten regelmäßig auf und sind bis zu einem gewissen Grad nichts Ungewöhnliches“, sagt die Neuropsychologin. Steigt jedoch deutlich der Leidensdruck in der Familie, sollte man sich nicht scheuen, einen Arzt um Hilfe zu fragen.
Im Fall von Raphaela Spanfelner war der Leidensdruck enorm. „Er hat unseren Familienalltag wie ein Wirbelsturm durcheinander gerüttelt und oft ist mir alles nur so um die Ohren geflogen, manchmal sogar wortwörtlich“, erzählt die 38-Jährige. „Hausaufgaben dauerten ewig und waren fast nicht zu bewältigen.“ Besonders belastend: Das Umfeld von Raphaela machte oft sie für die Verhaltensauffälligkeiten ihres Sohnes verantwortlich. „Da wurden Erziehungsprobleme und mangelnde Konsequenzen als Ursache vermutet. Irgendwann dachte ich, ich habe als Mutter versagt“, gesteht die Erzieherin.
Dabei ist AD(H)S keine Störung, die man erzeugen kann. Dem Syndrom liegt eine Stoffwechselstörung im Gehirn zugrunde. Die Betroffenen können die neuen Impulse nicht genügend filtern. Daraus resultiert eine permanente Reizüberflutung im Gehirn. „Wir können heute mit großer Sicherheit sagen, dass die Anlage für ADHS angeboren ist“, erläutert die Neuropsychologin Irina von Komorowski. Der Verdacht auf eine genetische Disposition habe sich in vielen Studien erhärtet. Elterliche Erziehung und andere umweltliche Einflüsse könnten laut der Expertin womöglich lediglich die Ausprägung von ADHS beeinflussen, nicht aber seine Entstehung.
Diagnose: Bleibt ADHS unentdeckt, hat es schwerwiegende Folgen
ADHS, so berichtet es die Neuropsychologin, gilt heute als die häufigste Lernstörung bei Kindern und Jugendlichen und kann bis ins Erwachsenenalter fortbestehen. Doch bleibt ADHS unentdeckt und wird nicht behandelt, gelingt es den Betroffenen nur schwer, ihren Alltag erfolgreich zu bewältigen. „Mein Sohn war so überfordert mit seinen eigenen Emotionen und seinem Verhalten, dass er mir irgendwann mit seinen zehn Jahren sagte, er wolle nicht mehr leben“, erzählt Raphaela Spanfelner. Nach dieser zerschmetternden Aussage wandte sich die Familie an einen Kinderpsychiater, der schließlich nach mehreren Sitzungen und Tests bei dem Jungen ADHS diagnostizierte.
Die Diagnose, so erzählt es die Mutter, war für die gesamte Familie eine Erleichterung. „Endlich wussten wir, woran wir sind und wie wir unserem Sohn helfen können.“ Zusammen mit dem behandelnden Arzt entschieden sich die Eltern dafür, ihrem Sohn spezielle Medikamente zu verabreichen, die helfen sollen, Symptome von ADHS zu lindern. „Für uns war die medikamentöse Behandlung ein echter Gamechanger. Die Medikamente haben meinem Sohn geholfen, seine Lebensfreude zurückzugewinnen“, ist sich die 38-Jährige sicher.
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Auch die Neuropsychologin Irina von Komorowski hält eine medikamentöse Therapie bei besonders ausgeprägten ADHS-Symptomen für sinnvoll: „Medikamente können die Lebensqualität der betroffenen Kinder und ihrer Familien deutlich verbessern.“ Grundsätzlich empfiehlt sie, zusätzlich auch pädagogische, soziale und psychotherapeutische Maßnahmen anzubieten.
Raphaela Spanfelner hat sich mittlerweile zur Aufgabe gemacht, anderen Familien mit ADHS-Kindern zu helfen. „Ich möchte anderen Betroffenen zeigen, dass sie nicht allein sind und Tipps geben, wie sie mit neurodiversen Kindern umgehen können.“ Auf ihrem Instagram-Profil widmet sich die 38-Jährige dem ADHS-Thema, berichtet von eigenen Erfahrungen und klärt über Klischees auf. Es tue ihr und anderen gut, sich auszutauschen, sagt sie.
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