Berlin. Unter den Risikofaktoren für Demenz gibt es einen, der sich schon bei Menschen ab 50 bemerkbar macht. Experten empfehlen einen simplen Test.

Die Demenz, auch bekannt als Krankheit des Vergessens, gilt als eine der schwerwiegendsten Erkrankungen des Alters. Allein in Deutschland sind etwa 1,8 Millionen Menschen betroffen, Schätzungen zufolge soll diese Zahl bis 2050 sogar auf 2,8 Millionen steigen. Die Demenz kann verschiedene Ursachen haben, darunter genetische Veranlagung, aber auch den eigenen Lebensstil, Ernährung und Vorerkrankungen – Faktoren, denen durch entsprechende Anpassungen durchaus vorgebeugt werden kann.

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Erst kürzlich wurden im Bericht der Lancet Kommission 14 Risikofaktoren herausgearbeitet, die potenziell beeinflussbar sind. Als ein wesentlicher Risikofaktor wurde dabei eingeschränktes Hörvermögen definiert. Genau zu diesem Thema forschen Dr. Victoria Sanchez von der University of South Florida und Dr. Maren Stropahl, Neurowissenschaftlerin und Leiterin der ganzheitlichen Hörversorgung für die Sonova Gruppe sowie Leiterin Audiologie des deutschen Hörakustik-Unternehmens Geers.

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Im Gespräch mit dieser Redaktion erklären die beiden Expertinnen, warum unbehandelter Hörverlust ein entscheidender Risikofaktor für Demenz ist und wie man Hörverlust und kognitiven Abbau am besten vorbeugen kann.

Warum wurde Hörverlust vergleichsweise spät als Risikofaktor für Demenz festgelegt?

Dr. Victoria Sanchez: Dass Hörverlust ein Risikofaktor für Demenz ist, ist schon seit längerem bekannt. Schon seit Jahrzehnten gibt es Studien, die sich mit der Frage befassen, wie Hörverlust und Hirngesundheit zusammenhängen. In der jüngeren Vergangenheit ist es uns aber gelungen, stichhaltige Hinweise durch noch umfassender angelegte Studien für den negativen Einfluss des Hörverlusts auf die Leistung des Gehirns zu liefern.

Dr. Maren Stropahl: Im wissenschaftlichen und klinischen Bereich ist dieses neu erlangte Wissen von großer Bedeutung, in der breiten Bevölkerung ist es aber noch nicht angekommen. Hörverlust gilt oftmals immer noch als „unbedenklicher“ Teil des Alterungsprozesses, obwohl wir heutzutage wissen, was für einen drastischen Einfluss es im weiteren Verlauf auf die Lebensqualität und andere Gesundheitsaspekte haben kann. Die Zahl derjenigen, die sich Hilfe suchen, ist im Vergleich zu den Fallzahlen aber immer noch relativ gering.

Risikofaktor für Demenz: Stigma ums Alter verhindert Behandlung

Warum ist das so?

Stropahl: Die Gründe dafür sind vielfältig. Grundsätzlich entwickelt sich bei den meisten Menschen ein Hörverlust nicht über Nacht, sondern über mehrere Jahre. Da es ein schleichender Prozess ist, gewöhnen sich die Betroffenen oftmals daran und unser Gehirn ist für einen gewissen Zeitraum sehr gut darin, den Hörverlust zu kompensieren. Deshalb dauert es oft lange, bis die Patienten bemerken, dass sie unter einem Hörproblem leiden könnten und schieben die Ursache oft auf das Umfeld - die anderen würden nuscheln oder zu leise sprechen.

Außerdem gibt es ein großes Stigma rund um das Thema Altern. Das dürfte einer der Hauptgründe sein, weswegen das Wissen um die Gefahren des Hörverlusts in der breiten Bevölkerung noch nicht sehr verbreitet ist. Wir reden zu wenig darüber. Deshalb ist es wichtig, das Bewusstsein für die negativen Auswirkungen von unbehandeltem Hörverlust noch stärker in den Vordergrund zu rücken.

Warum verstärkt sich das Demenzrisiko durch den Hörverlust überhaupt?

Sanchez: Die genauen Hintergründe zu diesem Zusammenhang werden derzeit noch erforscht. Jedoch vermuten wir vor allem drei bestimmte Mechanismen als Ursache. Erstens: Bei Hörverlust ist das Gehirn stark „kognitiv belastet“. Es muss härter arbeiten, um hören zu können. Die Betroffenen müssen genauer hinhören und sich mehr anstrengen, um an einer Konversation teilnehmen zu können bzw. den Hörverlust auszugleichen. Das kann das Gehirn langfristig überbelasten.

Der zweite Punkt ist die Hirnstruktur an sich. Wenn die Klangtöne das Gehirn nicht mehr in vollem Umfang erreichen können, ändern sich die neuronalen Verbindungen. Je stärker der Hörverlust ist, desto größer sind auch die Änderungen im Gehirn, wodurch die Leistungsfähigkeit abnimmt.

Der dritte Punkt ist die soziale Isolation. Wer an Hörverlust leidet, zieht sich häufig aus sozialen Interaktionen zurück, da die Situationen zu anstrengend oder auch wiederholtes Nachfragen unangenehm sind. Die Folge: Die Betroffenen gehen nicht mehr in Restaurants oder zu Treffen mit Freunden und Familie, wo Hören ein wichtiger Bestandteil ist. Genau diese Situationen sind aber wichtig, um ein aktives, angeregtes und gesundes Leben zu führen, einschließlich der Gehirngesundheit.

Dr. Victoria Sanchez
Victoria Sanchez forscht an der University of Florida im Bereich Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. © Victoria Sanchez | Victoria Sanchez

Was kann man gegen den Hörverlust unternehmen?

Sanchez: Wenn man den Hörverlust behandelt, kann es einen positiven Einfluss auf die eben genannten Faktoren haben und die Hirnstruktur und -leistung erhalten. Die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse lassen den Schluss zu, dass Personen mit erhöhtem Demenzrisiko erhebliche Vorteile von einer Hörversorgung haben würden. Wir untersuchen derzeit, wie Hörgeräte den kognitiven Abbau verringern und die allgemeine Gesundheit sowie die Lebensqualität langfristig verbessern können.

Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass Hörgeräte allein jemanden vor einer Demenzerkrankung bewahren können, da sich die Krankheit über mehrere Jahre entwickelt. Dabei spielen viele verschiedene Faktoren zusammen. Etwa die Hälfte des Demenzrisikos ist auf genetische Veranlagung zurückzuführen, was Hörgeräte nicht beeinflussen können. Dennoch können Hörgeräte einen positiveren Lebensstil fördern und die soziale Interaktion erhöhen, wodurch die Gehirngesundheit geschützt und das allgemeine Wohlbefinden gesteigert werden kann.

Hörverlust? Diesen Test sollten Menschen ab 50 regelmäßig machen

Sollten die Testverfahren für Demenz oder Alzheimer in Bezug auf den Hörverlust jetzt angepasst werden?

Stropahl: Wir sind der Meinung, dass jeder ab einem Alter von 50 Jahren regelmäßige Tests des Hörvermögens durchführen lassen sollte, da wir die negativen Auswirkungen des Hörverlusts heutzutage kennen. Diese Tests können sowohl beim HNO-Arzt als auch in einem Hörakustik-Fachgeschäft gemacht werden und sind in der Regel kostenlos. Hörakustiker sehen die Betroffenen durch die Hörgeräteversorgung häufig über einen Zeitraum von mehreren Jahren und können so eventuelle Änderungen in der Persönlichkeit, der Gesundheit oder der Hörleistung rasch erkennen. Durch eine enge Zusammenarbeit mehrerer Disziplinen in einem interprofessionellen Netzwerk könnte man die Folgen des Hörverlusts und andere Gesundheitsbedingungen rechtzeitig erkennen und angemessen darauf reagieren.

Sanchez: Es ist wichtig, dass verschiedene Experten zusammenarbeiten und die Hörgesundheit ganzheitlich betrachten. HNO-Ärzte sollten sich nicht ausschließlich auf das Gehör konzentrieren, ebenso wie Neurologen den Hörsinn ihrer Patienten mit einbeziehen sollten. Es ist entscheidend zu erkennen, dass unterschiedliche Faktoren berücksichtigt werden müssen, um das bestmögliche Ergebnis für den Patienten zu erzielen und die höchste Lebensqualität zu gewährleisten.

Ab welchem Level von Hörverlust sollte man einen Arzt aufsuchen?

Stropahl: Die deutlichsten Anzeichen treten dann auf, wenn jemand Probleme beim Kommunizieren hat oder wenn man merkt, dass soziale Situationen aufgrund des schlechteren Verstehens anstrengender und schwieriger werden. In diesen Situationen merken die Betroffenen oft erstmalig, dass etwas nicht in Ordnung ist. In der Regel ist es ratsam einen Hörtest zu machen, sobald man merkt, dass sich das Hören verändert. Für einen ersten Test kann man z.B. einen kostenlosen Hörtest beim Hörakustiker durchführen lassen. Diese sind in ganz Deutschland zu finden und man hat dort in der Regel keine längeren Wartezeiten. Wenn der Hörtest auffällig ist, erfolgt die Diagnose und die medizinische Abklärung durch einen HNO-Facharzt.

Sanchez: In vielen Ländern wird ein Hörtest regulär im Kindesalter gemacht, allerdings folgt der nächste dann erst ab einem Alter von mehr als 60 Jahren. Das muss sich ändern. Das Gehör sollte jährlich überprüft werden, damit sich alle Menschen ihrer Hörfähigkeiten bewusst sind und Veränderungen besser beobachten können. Außerdem können präventive Maßnahmen frühzeitig besprochen werden, bevor ein dauerhafter Hörverlust eintritt.

Maren Stropahl Geers Sonova
Maren Stropahl ist Neurowissenschaftlerin. Sie leitet die ganzheitliche Hörversorgung für die Sonova Gruppe sowie die Audiologie des deutschen Hörakustik-Unternehmens Geers. © Geers Sonova | Geers Sonova

Wie kann man Hörverlust bestmöglich vorbeugen?

Stropahl: Wir sollten darauf achten, dass wir unsere Ohren nur bedingt Lärm aussetzen bzw. sie in lauten Situationen etwa durch entsprechenden Gehörschutz schützen, zum Beispiel im Beruf auf der Baustelle, bei Konzerten oder im Fußballstadion. Eine Sensibilisierung gegenüber unserem Hörvermögen und unserem Hörorgan ist dabei natürlich ebenfalls wichtig. Wenn man bei sich selbst Hörprobleme bemerkt, ist eine schnelle Reaktion wichtig. Viele Betroffene warten leider viel zu lang, bis sie aktiv werden.