Berlin. Nach zehn Jahren Tinder sind viele Online-Dater müde vom endlosen Wischen. Warum sie nicht aufgeben sollten, erklärt eine Expertin.

Seit dem Aufstieg von Tinder im Jahr 2012 haben Dating-Apps die Art und Weise, wie wir Menschen kennenlernen, stark verändert. Und so schnell werden die Apps auch nicht mehr aus unserem Alltag verschwinden. Allein in diesem Jahr nutzten laut Statista weltweit immer noch fast 400 Millionen Menschen Dating-Plattformen, und etwa 16 Prozent davon haben ihren Partner über das Internet oder eine App gefunden. 

Doch während diese Plattformen einst den Dating-Markt dominierten, zeigen aktuelle Zahlen, dass der Hype um Singlebörsen allmählich abebbt: Laut Daten des Marktforschungsunternehmens Sensor Tower ist die Zahl der zahlenden Nutzer bei Tinder inzwischen auf unter zehn Millionen gesunken – ein Rückgang, der sich bereits über sechs Quartale erstreckt.

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Auch die Zahl der aktiven Nutzer ist seit 2021 rückläufig. Bumble, eine weitere prominente Dating-Plattform, verzeichnete zuletzt zwar eine stabile Zahl zahlender Nutzer, doch auch hier wird für das erste Quartal dieses Jahres ein Rückgang sowohl der zahlenden als auch der aktiven Nutzer gemeldet.

Sind Dating-Apps also in einer Krise? Nein, sagt Pia Kabitzsch, Diplom-Psychologin, Dating-Expertin und Bestsellerautorin aus Berlin. Sie sieht das Problem eher in der ungesunden Nutzung der Apps durch Singles.

Beziehung: Dating-Apps nähren Illusion der perfekten Liebe

„Dating-Apps haben den Zugang zu einem riesigen Pool potenzieller Partner erleichtert“, sagt Pia Kabitzsch. Mit Funktionen wie dem standortbasierten Matching, dem Swipe-Mechanismus und der Möglichkeit, Chats vorab zu vereinbaren, hätten sie das Kennenlernen bequemer und flexibler gemacht.

Doch dieser Komfort hat auch seine Schattenseiten, warnt die Expertin. „Viele Nutzer glauben, dass sie nur lange genug swipen müssen, um den perfekten Partner oder die perfekte Partnerin zu finden“, sagt sie. Diese Illusion könne dazu führen, dass sich Menschen weniger auf Beziehungen einlassen und weniger kompromissbereit sind, weil sie immer hoffen, dass jemand Besseres auf sie wartet. Bei rund 75 Millionen Tinder-Nutzern weltweit ist diese Haltung nicht verwunderlich.

Doch Liebe funktioniert anders, betont Kabitzsch: „Es geht nicht darum, den perfekten Partner zu finden, sondern gemeinsam eine Beziehung zu gestalten, die zu einem passt. Das erfordert Verbindlichkeit und Arbeit. Und sie fügt hinzu: „Es gibt nicht ‚The One‘, sondern viele Menschen, mit denen eine Beziehung erfüllt und glücklich sein kann.“

Im Schnitt nur eine Beziehung pro 291 Begegnungen

Ein weiteres Problem, das Kabitzsch beobachtet, ist der negative Einfluss von Dating-Apps auf das Selbstwertgefühl der Nutzer. Viele beklagen, dass ihr Selbstwertgefühl leidet, wenn sie auf den Plattformen keinen Erfolg haben. „Die große Auswahl an Singles führt oft zu der Erwartung, dass alles schnell geht – Match, Date, Beziehung, Ehe“, erklärt Kabitzsch. Kommt es anders, würden viele Nutzer das schnell auf sich selbst beziehen. Dabei verlaufe die Dating-Reise für jeden individuell, sagt Kabitzsch, und sei nicht mit anderen vergleichbar. „Manchmal gleicht sie einer Achterbahnfahrt“, so die Expertin.

Auch eine norwegische Studie zeigt, dass der Prozess des Online-Datings oft länger dauert, als man denkt oder gerne hätte: Im Durchschnitt sind 57 Matches nötig, um ein einziges Date zu finden, und etwa 5,1 Dates mit verschiedenen Personen, um eine Partnerschaft zu beginnen. Das bedeutet, dass aus durchschnittlich 291 Begegnungen nur eine einzige feste Beziehung entsteht.

Wer jetzt die Hoffnung aufgibt, den fängt Kabitzsch wieder auf. Sie plädiert dafür, Erfolg beim Online-Dating neu zu definieren. „Erfolg fängt nicht erst an, wenn man seine Traumfrau oder seinen Traummann gefunden hat, sondern viel früher“, erklärt sie. „Ein Erfolg kann schon ein nettes Gespräch, ein Flirt oder ein schönes Date sein – oder die Erkenntnis, was man nicht will.“ Mit einer solchen Perspektive könnten die Nutzer ihr Selbstwertgefühl stärken und die Hoffnung auf Liebe nicht aufgeben.

Auch das Phänomen des Ghosting, bei dem die Verabredung wie ein Geist aus dem Leben verschwindet, lässt viele Menschen von Dating-Apps Abstand nehmen. 
Auch das Phänomen des Ghosting, bei dem die Verabredung wie ein Geist aus dem Leben verschwindet, lässt viele Menschen von Dating-Apps Abstand nehmen.  © Christin Klose/dpa-tmn | Unbekannt

Menschen sind von digitalen Kennenlernen erschöpft

Ein weiterer Trend, der sich in letzter Zeit verstärkt zeigt, ist „Dating Burnout“ – eine emotionale Erschöpfung, die viele Nutzer von Dating-Apps verspüren. Eine US-amerikanische Studie hat beispielsweise ergeben, dass vier von fünf Erwachsenen beim Online-Dating „bereits irgendeine Form emotionaler Erschöpfung erlebt haben“. Auch eine Studie von Hinge zeigt, dass 61 Prozent der Mitglieder den modernen Dating-Prozess als überfordernd empfinden.

Kabitzsch bestätigt diese Beobachtungen, sieht aber nicht die Apps selbst als Ursache. „Es ist das ungesunde Nutzungsverhalten, das zu diesem Burnout führt“, sagt sie. „Viele gönnen sich keine Pause, obwohl sie frustriert sind, weil sie Angst haben, dann ‚The One‘ zu verpassen.“ Kabitzsch rät denjenigen, die Online-Dating als belastend empfinden, die Apps für eine Weile vom Handy zu verbannen.

Allen anderen empfiehlt sie, das Swipen auf ein paar Minuten am Tag zu beschränken und sich in Ruhe die Profile der interessanten Matches anzuschauen. „Das macht das Online-Dating nicht nur weniger oberflächlich, sondern entlastet das Gehirn enorm und beugt Ermüdung vor“, so die Expertin.

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Das Internet verliert an Qualität

Datingexpertin Kabitzsch wagt auch einen Blick auf die Metaebene, die weit über das Online-Dating hinausgeht. „Die Informationsflut, der zunehmende Hass im Netz, der Einsatz von Beauty-Filtern und der Trend, dass alles ganz schnell gehen muss, prägen das heutige Internetzeitalter negativ“, warnt sie.

Diese Entwicklungen führten zu Oberflächlichkeit, unrealistischen Erwartungen und wenig Geduld – Faktoren, die auch das Online-Dating beeinflussen. Helfen könnten laut der Expertin vor allem Sicherheitsfunktionen der Dating-Apps, die objektivierende Chatnachrichten blockieren, oder transparente Aufklärungsarbeit.