Berlin. Schwitzen, Panik, Herzrasen – Tausende rufen jedes Jahr den Notarzt. Auch Lena gehört dazu. Dabei ist nicht das Herz das Problem.

Als sie zum vierten Mal innerhalb eines Monats wegen Herzrasens in der Notaufnahme sitzt, fragt sich Lena Straub, ob sie langsam verrückt wird. Denn alle Untersuchungen zeigen, dass die 24-Jährige ein gesundes Herz hat und auch an keiner anderen Erkrankung oder einer Durchblutungsstörung leidet, die solche Rhythmusstörungen verursachen kann.

„Mehrere Kardiologen, Internisten sowie Ärzte in der Notaufnahme haben mir versichert, dass ich gesund bin und dass es keine organische Ursache für mein Herzrasen gibt“, erzählt die junge Frau aus München. Trotzdem muss sie wegen Herzrhythmusstörungen und Brustschmerzen mehrmals den Krankenwagen rufen. „Jedes Mal hatte ich Todesangst. Ich war überzeugt davon, bald einen Herzinfarkt erleiden zu müssen“, sagt die Studentin.

Bei ihrem vierten Aufenthalt in der Notaufnahme wird Lena zum ersten Mal mit der Diagnose Herzneurose konfrontiert. „Ein Kardiologe kam auf mich zu und sagte, dass ich psychosomatische Symptome aufweise und er bei mir eine Art Herzneurose vermutet“, erinnert sich die Studentin. Der Arzt empfiehlt ihr, dringend einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Die junge Frau, die bereits seit mehreren Monaten Herzbeschwerden verspürte, hat bis dato noch nie etwas von einer Herzneurose gehört: „Niemals hätte ich gedacht, dass meine Psyche solche Symptome auslösen kann.“

Herzneurose: Herzrasen ohne körperliche Ursache

Professor Andreas Ströhle, Leitender Oberarzt und Leiter der Spezialambulanz für Angsterkrankungen an der Berliner Charité, weiß dagegen sehr wohl, wie sehr die Seele den Körper quälen kann – auch wenn er selbst den Begriff Herzneurose nicht benutzen würde. „Wir sprechen heutzutage nicht mehr von Neurosen, sondern von psychischen Erkrankungen“, erklärt der Experte. So verbirgt sich hinter der umgangssprachlichen Herzneurose oft das sogenannte Da-Costa-Syndrom, das offiziell zu den Angsterkrankungen oder auch den somatoformen Erkrankungen, also psychischen Erkrankungen gehört.

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Im Fachjargon sprechen die Experten von einer „somatoformen autonomen Funktionsstörung des kardiovaskulären Systems“. Ströhle fasst es so zusammen: „Betroffene verspüren Herzbeschwerden ohne körperliche Ursachen.“ Das sei deswegen möglich, weil Herz und Gehirn in einer innigen Verbindung stehen und durch das Stresshormonsystem miteinander gekoppelt sind.

Wie viele Menschen genau Herzbeschwerden ohne körperliche Ursachen verspüren, lässt sich schwer sagen. Laut der Barmer Krankenkasse sollen jedoch allein in Deutschland etwa 100.000 Menschen darunter leiden. Auffällig ist, dass anders als bei organischen Herzbeschwerden, die Betroffenen von Da-Costa-Syndrom oft auch jung sein können. „Herzbezogene Ängste haben ihren Häufigkeitsgipfel oft im jungen Erwachsenenalter. Dann nochmal ab Mitte 40 bis 60, wenn zum ersten Mal Herz-Kreislauf-Erkrankungen auftreten können“, erklärt der Facharzt.

Angst versetzt den Körper in Alarmbereitschaft

Im klinischen Alltag, so Ströhle, würden er und seine Kollegen immer wieder „herzbezogene Ängste in unterschiedlichem Kontext“ beobachten. „Das Herz ist für uns Menschen ein ganz zentrales Organ. Die Befürchtung, es könnte nicht mehr richtig funktionieren, kann den Körper in Alarmbereitschaft versetzen“, sagt Ströhle. Diese akute Angst kann wiederum physiologische Reaktionen auslösen, wie Herzrasen, Blutdrucksteigerung, Schwindel oder Schwitzen. Ströhle warnt jedoch: „Solche Symptome können aber tatsächlich auf eine Herzerkrankung hindeuten. Deshalb sollten die Beschwerden immer ärztlich abgeklärt werden.“

Können jedoch keine organischen Ursachen für die Beschwerden gefunden werden, sollte das Leiden trotzdem ernst genommen werden. „Nicht selten geraten Betroffene in einen Teufelskreis aus Angst und körperlichen Symptomen, den sie allein nicht mehr durchbrechen können. Aus Furcht vor möglichen Beschwerden isolieren sie sich zudem von ihrer Außenwelt“, sagt der Facharzt und Psychotherapeut.

So erging es auch Lena Straub, die immer tiefer in die Angstspirale rutschte. „Ich ging nicht mehr joggen oder ins Fitnessstudio, weil ich Angst hatte, wieder Herzrasen zu bekommen. Selbst zum Spazierengehen traf ich mich nicht mehr mit Freunden“, erinnert sich die 24-Jährige. Aus Sicht des Oberarztes ein Fehler, denn „regelmäßiger Sport und Bewegung können helfen, Stress und Anspannung abzubauen.“

Herzneurose: „Auch Selbsthilfegruppen sind ratsam“

Statt neue Turnschuhe besorgte sich die Studentin jedoch eine Smartwatch sowie ein tragbares EKG-Gerät. „Ich dachte, es würde mich beruhigen, immer sehen zu können, was mein Herz macht – doch genau das Gegenteil traf ein“, erzählt Lena. Bereits bei kleinster Unregelmäßigkeit geriet die junge Frau in Panik.

Oft landen Betroffene des Da-Costa-Syndroms beim Notarzt oder in der Notaufnahme.
Oft landen Betroffene des Da-Costa-Syndroms beim Notarzt oder in der Notaufnahme. © IMAGO/Panama Pictures | IMAGO/Christoph Hardt

Warum man eine solche Angst um sein Herz entwickelt, kann verschiedene Gründe und Ursachen haben. „Den Gründen geht man besten in einer Therapie nach“, rät Ströhle. Als besonders effektive Behandlung von herzbezogenen Ängsten hat sich die Kognitive Verhaltenstherapie erwiesen: Hier sollen die Betroffenen erkennen, wie ihre Angst direkt mit den körperlichen Reaktionen zusammenhängt. „Auch Selbsthilfegruppen sind ratsam. Dort können sich Betroffene austauschen“, erläutert der Experte.

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Auf Anraten ihrer Psychotherapeutin entschied sich Lena für eine Kognitive Verhaltenstherapie, die sie nun regelmäßig bereits seit einem Jahr macht. Herzrasen verspürt sie weiterhin, jedoch nicht mehr so häufig. „Und wenn, dann habe ich gelernt, nicht mehr in Panik zu verfallen und weiß nun, welche Taktiken mir helfen, mich zu beruhigen“, erzählt die 24-Jährige. Als eine der Ursachen für ihre Angst wird mittlerweile ihre Isolation im Corona-Lockdown vermutet.

Auch Oberarzt Ströhle beobachtet in seiner Arbeit einen Zusammenhang zwischen Angststörungen und Isolation im Lockdown: „Was wir häufiger erleben, ist die Tatsache, dass der Lockdown jungen Menschen in ihrer Entwicklung mehr zugesetzt hat als etwa der älteren Generation.“