Dortmund. . Stillsitzen und selbständig sein? Viele Eltern trauen ihren Kinder das beim Wechsel von der Kita zur Schule nicht zu. Ein Psychologe gibt Tipps.

Kindergarten ist Freiheit, Schule ist Zwang. So sehen es viele Eltern von Erstklässlern, die Ende August in die Grundschule kommen. Aber empfinden Kinder das auch so? Wir haben uns von Dr. Norbert Zmyj, Professor für Entwicklungspsychologie an der TU Dortmund, erklären lassen, wo es beim Wechsel haken kann – und wie Eltern gegensteuern können.

Plötzlich bricht alles Gewohnte weg...

Jahrelang waren die Kinder in der Kita von gewohnten Menschen umgeben. Von Kindergartenfreunden, Erziehern, Mitarbeitern. In der Schule bricht diese Sicherheit weg. Jetzt gewinnt die Gruppe der Gleichaltrigen an Bedeutung – und zu denen müssen Kinder Anschluss finden. Am besten gelingt das denen, die sich gut in andere hineinversetzen können: "Wer die Emotionen und Gedanken anderer versteht, kann sich schneller in eine neue Gruppe integrieren", so Zmyj. Das hilft, neue Freunde zu finden. Allerdings geht das nicht von jetzt auf gleich. Zmyj rät Eltern: Beim gemeinsamen Lesen (auch schon bei Bilderbüchern) sollte man das Kind nach den Gefühlen oder Intentionen der Handelnden fragen: "Was denkt das Mädchen gerade? Wie fühlt sich das Tier?"

Wechsel der Bezugsperson

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Was beim Wechsel von der Kita in die Schule noch wegbricht, ist die Bezugsperson. Aber das ist für Sechsjährige weit weniger schwer als für Zweijährige, weiß Zmyj. Natürlich bauen auch Grundschulkinder eine Beziehung zum Lehrer auf, allerdings hat sie nicht mehr einen so stark elterlichen Charakter wie in der Kita. Einem Sechsjährigen kann man den Wechsel schon gut erklären: Ein Beruf ist nun mal ein Beruf, und das verstehen Kinder auch.

Lärmen für mehr Aufmerksamkeit

Und der Lärm? Bei kleinen Kita-Gruppen ist das sicher nicht so schlimm wie auf Gängen und Pausenhof in der Schule... Aber Zmyj räumt ein: "Wer eine ruhige Kita hat, der hat Glück. Meist ist der Lärmpegel schon dort ein Gesundheitsrisiko." Das kennen die Kinder also. In der neuen Klassen-Gruppe ist es allerdings anfangs tatsächlich lauter. Später ist es etwas ruhiger, so Zmyj: "Wer viel Lärm macht, bekommt viel Aufmerksamkeit", und das ist auch eine Art, Freunde zu finden. Vor allem bei Jungs. Das legt sich aber nach einigen Wochen.

Kein Rückzugsraum in der Schule

Im Kindergarten haben Kinder in gewissem Maße einen Rückzugsraum: Wer gerade keine Lust auf andere hat, der spielt allein. In der Schule fehlt diese Freiheit plötzlich. Aber hier verweist Entwicklungspsychologe Zmyj ganz klar auf das pädagogische Geschick der Grundschullehrer. In der Regel gehen Lehrer vor allem in der Anfangsphase auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder ein und erkennen, wann es einem Kind zu viel wird. Aber das seien Einzelfälle, so Zmyj.

Länger von zu Hause weg

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Viele Kinder sind in der Grundschule länger von Zuhause weg als in der Kita. Aber hier gilt das gleiche Prinzip wie schon in der Kita, erklärt Zmyj: "Kinder, die eine gute Bindung an ihre Eltern haben, können sich besser zeitweise von ihnen lösen." Heißt: Ein Kind muss wissen, dass es den Eltern vertrauen kann, dass es zuverlässig von der Schule abgeholt oder zuhause empfangen wird, dass es in eine sichere Umgebung zurück kann – dann fällt es leichter, sich auf ungewohnte, unsichere, unbekannte Situationen einzulassen. Für sie kann das Fremde spannend sein, nicht furchterregend. Ähnlich funktioniert es beim Gewöhnen an fremde Räume wie das neue große Schulgebäude.

Selbstständigkeit macht Spaß

Eine der größten Sorgen der Eltern ist die fehlende Selbstständigkeit von Kindern. Im Kindergarten mussten sie sich um nichts kümmern – jetzt müssen sie ihre Tasche allein packen, sorgfältig sein und zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. "Stimmt", meint Zmyj. "Aber das ist nicht nur ein Muss, sondern auch ein Kann und ein Darf." Zum Ende des Kita-Alters entwickelt sich bei Kindern eine eigene Leistungsmotivation, erklärt er. Sie wollen die Dinge allein machen, gut machen, richtig machen. Sie wollen vor sich selbst gut dastehen und mit dem, was sie tun, zufrieden sein. Auch hier können Eltern helfen: Sie dürfen sich nicht scheuen, Ansprüche an das Kind zu stellen und zu sagen "das musst du jetzt aber schon allein können". Diese Erwartungen (nicht zu verwechseln mit Leistungsdruck!) verinnerlichen Kinder mit der Zeit. Dann stellen sie ihre eigenen Erwartungen an sich – wie etwa die Tasche zu packen, ohne etwas zu vergessen. "Diese Leistungsmotivation steckt in jedem Kind. Das muss man fördern: Selbstständigkeit ist nicht nur Pflicht, sondern auch ein Privileg", rät Zmyj.

Konkurrenz gab es vorher so nicht

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Und wie gehen Kinder damit um, dass plötzlich Konkurrenzdruck herrscht? Zmyjs Antwort ist simpel: "Das ist etwas, was man einem Kind nicht ersparen kann." Natürlich können Kinder mit Problemen immer zu ihren Eltern gehen – aber sie müssen auch lernen, Probleme selbst zu lösen. Eine Lösung fürs Konkurrenz-Problem: lernen und ordentlich die Hausaufgaben machen! Aber auch mit Schulhof-Streit muss ein Kind umgehen können. "Es gibt eben Konkurrenz unter Kindern, und das ist auch gut so. Das macht vielen Kindern Spaß, so lange es fairer Wettbewerb ist. Sie messen sich gern miteinander."

Nicht jeder kann lange still sitzen

Plötzlich müssen Kinder lange still sitzen. Schaffen das alle? Zmyj verweist auf zwei Dinge: Temperament und kognitive Reife. "Es gibt Kinder mit von Geburt an sehr lebhaftem Temperament", so der Wissenschaftler. Sie haben einen höheren Bewegungsdrang und sind leichter gelangweilt als andere. Solche Kinder seien in unserer auf Bildung fokussierten Gesellschaft einfach schlecht dran. Früher, in Jäger- und Sammlergesellschaften, war es genau andersherum. Angeborenes Temperament ist also das eine – das andere ist die kognitive Reifung. Versteht das Kind: 'Jetzt muss ich still sitzen, aber später darf ich toben'? Aber Zmyj beruhigt: "Das können Kinder viel besser als Eltern glauben". Temperamentvollen Kindern falle das schwerer, aber auch sie schaffen es irgendwann.

Kinder können Konzentration üben

Eltern können ihren Kindern auch helfen zu lernen, sich auf eine Sache zu konzentrieren. "Geschichten lesen, gemeinsam basteln – dabei übt ein Kind schon früh, sich zu konzentrieren", erklärt Zmyj. Viele Eltern tun das automatisch. Leider sind das hauptsächlich Eltern mit höherem Bildungsgrad, bemängelt er. Dabei können auch Eltern mit geringem Bildungsgrad ihren Kindern auf diese Weise viel für die Schule mitgeben.

Mädchen fällt es schwer, vor allen zu sprechen

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Vor der Gruppe zu sprechen fällt vielen Kindern schwer, vor allem Mädchen. "Ja, leider gibt es diesen Geschlechtsunterschied. Jungen sind viel frustrationstoleranter als Mädchen", erklärt Zmyj. Misserfolge machen Jungs nicht so viel aus, Niederlagen wie falsche Antworten werden schnell weggesteckt. Mädchen dagegen melden sich nur, wenn sie genau wissen, dass ihre Antwort richtig ist. "In gemischtgeschlechtlichen Klassen kommen Mädchen schnell unter die Räder", moniert Zmyj. Was kann man dagegen tun? Da ist selbst der Psychologieprofessor überfragt. Dieser Geschlechterunterschied ist für Mädchen ein Problem – auch später im Beruf, wo oft der gewinnt, der sich besser in den Vordergrund stellt. Eltern können ihre Töchter nur ermuntern sich auch dann zu melden, wenn sie sich der Antwort nicht ganz sicher sind. Ein Fehler ist nicht schlimm und sollte ihren Selbstwert nicht in Frage stellen.

Stundenplan und Hausaufgaben

Kindern fällt es am Anfang ihrer Grundschulzeit oft schwer, sich auf die Pflichten eines festen Stundenplans einzulassen. Aber so ist es nun mal, so Zmyj. Man muss auch ungeliebte Dinge tun. Auch hier greift am Ende die Leistungmotivation: "Wenn du Deutschunterricht hast, lernst du allein Lesen!" Das gleiche gelte für die verhassten Hausaufgaben: Sie seien extrem wichtig dafür, Probleme allein lösen zu lernen.

Am Ende haben die Eltern die größte Angst...

Oh Gott, schafft mein Kind das alles ganz allein ohne mich? Zmys Antwort ist so einfach wie wahr: "Mit dieser Sorge müssen Eltern leben." Sie können grundsätzlich in die pädagogische und fachliche Kompetenz der Lehrer vertrauen. Die machen das schon – dank guter Ausbildung, hoher Motivation und oft jahrelanger Erfahrung. Sie können die Anforderungen an die Schüler (in bestimmten Grenzen) anpassen und ihre Leistungen gut bewerten. „Außerdem bedeutet die größere Selbstständigkeit der Kinder nicht, dass die Eltern keine Verantwortung mehr haben“, ergänzt Zmyj. Kinder brauchen ihre Eltern, um mit ihnen über Erlebnisse zu reden, die ihnen Kummer bereiten oder sie mit Stolz erfüllen. Leider seien Lehrer oft extremer Kritik durch besonders besorgte Eltern ausgesetzt, weiß der Dortmunder Professor. Diese Eltern sollten also einen Gang zurückschalten: Die Kinder packen das schon. Sie sind doch jetzt groß!

Dieser Text wurde das erste Mal am 24. Juli 2018 publiziert

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