Kiel. Rentnerin Renate Krause lebt von Grundsicherung. Wegen der Inflation ist das nun (fast) unmöglich. Wie sie ihren Alltag organisiert.
Das Erste, was Besucher in der Wohnung von Renate Krause sehen, ist das Regal mit den Gläsern. Marmelade, Apfelmus, eingemachtes Gemüse und Senfgurken tauchen auf im Halbschatten des Flurs, kaum dass man die Wohnungstür geöffnet hat. Geerntet im Garten und eingemacht von Krause selbst, warten die Vorräte auf ihren Einsatz.
Es ist die Reserve der Rentnerin. Eine Art Versicherung in Schraubgläsern, dass auch dann noch Essen da ist, wenn das Geld nicht mehr reicht.
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Rentnerin Krause lebt von Grundsicherung – ihr bleiben im Monat 449 Euro
Die 68-Jährige hat die Gläser nicht ohne Grund. Sie gehört zu den rund 18 Prozent der über 65-Jährigen in Deutschland, die im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung als arm gelten. Weil die Rente nicht ausreicht, erhält sie zusätzlich Grundsicherung, so wie rund 600.000 ältere Menschen auch.
Nach dem Abzug der Wohnkosten bleiben ihr im Monat 449 Euro – für Nahrung, für Hygieneartikel, für alles. Das war schon knapp, bevor der Krieg die Preise in die Höhe trieb. Jetzt ist es fast unmöglich.
Regelsatz hält mit Preissprüngen nicht Schritt
Krause hat die Preise im Kopf. Die Packung Käse bei Aldi, die jetzt 10 Cent mehr kostet als zuvor. Das Roggenmehl, aus dem sie selbst Brot backt und das jetzt statt 1,19 Euro plötzlich 1,59 Euro kostet. Der Wocheneinkauf, der inzwischen 15 bis 20 Euro teurer ist als noch vor ein paar Monaten. Im Schnitt kosteten Lebensmittel im April 2022 8,6 Prozent mehr als ein Jahr zuvor, für manche Produktgruppen lag dieser Wert bei fast 30 Prozent.
Es sind Sprünge, mit denen die Grundsicherung, die eigentlich das Existenzminimum sichern soll, nicht Schritt hält. 155,80 Euro monatlich sind im Regelsatz für Essen vorgesehen. Zuletzt angepasst wurde der Betrag zum 1. Januar dieses Jahres. Damals stieg er um 3 Euro.
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Rentnerin muss Frühstück weglassen und Essen rationieren
Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, müssen deshalb in diesen Wochen Spielräume finden in einem Budget, das darauf ausgelegt ist, keine zu haben. Für Renate Krause heißt das: Frühstück weglassen. Essen rationieren. „Ich esse zwei Mahlzeiten am Tag“, sagt sie. „Mehr kann ich mir nicht leisten.“ Ähnliche Strategien hätten auch andere arme Menschen.
Was hilft, ist der Schrebergarten. Rosenkohl wächst dort, auch Äpfel, Himbeeren, Erdbeeren und Weintrauben, die den Speiseplan auffüllen. Und auf dem kleinen Wochenmarkt um die Ecke, erzählt sie, kennen sie die Verkäuferinnen und Verkäufer, deshalb bekommt sie häufig einen guten Preis.
Im Vergleich zu anderen Menschen in Armut, so Krause, gehe es ihr damit gut. „Das ist auch ein Grund, warum ich nicht zur Tafel gehe“, sagt sie. „Es gibt Menschen, denen es noch schlechter geht als mir. Denen möchte ich nichts wegnehmen.“ Doch was sie tun soll, wenn die Preise weiter steigen sollten, weiß sie nicht.
Für einen Friseurbesuch ist kein Geld da
Sie gehört zu denen, die von Entlastungspaketen der Ampel-Koalition profitieren sollen, 200 Euro sollen Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung erhalten. Das ist mehr, als andere Rentnerinnen und Rentner bekommen, für die bislang keine Erleichterungen geplant sind. Doch die Einmalzahlungen reichen nicht, kritisieren Sozialverbände. Vor allem weil der Regelsatz schon vor der Krise zu knapp berechnet gewesen sei.
Auch Krause spart längst an anderen Stellen, damit es für das Nötigste reicht. „Bei sich selbst Geld leihen“ nennt sie das, das heißt: wenn für den Einkauf mal wieder draufgeht, was sie für anderes bräuchte. Die langen silbergrauen Haare hat sie zum Zopf geflochten und mit einer Spange hochgesteckt. Sie trägt sie nicht so lang, weil es ihr gefällt. Der Friseurbesuch ist schlicht zu teuer.
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Ihre Heimatstadt Hamburg war ihr zu teuer
Sie erzählt all das nüchtern, ohne Selbstmitleid. Krause empfängt Besuch im Wohnzimmer der kleinen Altbauwohnung am Stadtrand von Kiel, wo sie seit dreieinhalb Jahren wohnt. Eigentlich wollte sie nach einer Trennung in ihre Heimatstadt Hamburg zurückkehren, aber die Elbmetropole war zu teuer. Heute hat sie sich in Kiel ein Zuhause geschaffen.
Im Flur der Wohnung hängen dicht an dicht Fotos, von ihren drei Töchtern und dem Sohn, von den Enkeln. Als die Kinder klein waren, machte die gelernte Buchhändlerin sich selbstständig, spezialisierte sich im Textilbereich. Jahrelang führte sie ein Geschäft für Naturgarn und -stoffe.
Später, nach ihrer Scheidung, sattelte sie um, verkaufte auf Mittelaltermärkten Gewänder nach historischem Vorbild. Fast jedes Wochenende war sie unterwegs durch die Republik, erzählt Krause. Das Geld reichte für sie und die jüngste Tochter, die noch zu Hause wohnte. Für die Rentenversicherung reichte es nicht.
Armut isoliert die Menschen
Es habe gedauert, sagt Krause, doch inzwischen sei die Scham darüber, im Alter arm zu sein, weg. Doch sie merke an der Reaktion anderer Menschen, dass das Thema unbequem sei, lieber beschwiegen werde. „Wenn man im Gespräch sagt, dass man sich zum Beispiel einen Restaurantbesuch nicht leisten kann, weil man arm ist, dann ist die Stimmung schnell im Eimer“, erzählt sie. „Zack, sitzt du alleine am Tisch.“
Auch auf andere Arten isoliert die Armut. Auf ein Konzert gehen, spontan einen Kaffee trinken mit einer Bekannten oder sogar den Nachbarn im Garten ein kühles Bier anbieten – vieles, was für andere selbstverständlich ist, ist für sie fast unerreichbar weit weg. „Man fühlt sich als Mensch zweiter Klasse“, fasst Krause zusammen. Auch interessant: Neue Zahlen: Immer mehr Rentner müssen arbeiten
Rentnerin setzt sich für soziale Gerechtigkeit ein
Das dauernde Rechnen, das Abwägen, wo man vielleicht an der einen Ecke verzichten könnte, um an der anderen etwas möglich zu machen, zehrt an den Kräften.
Doch einfach hinnehmen will die 68-Jährige die Situation nicht. Früher habe sie für soziale Gerechtigkeit demonstriert und sich gewerkschaftlich engagiert, erzählt sie. Heute ist sie aktiv beim Verein Groschendreher, einem Kieler Bündnis, das arme Seniorinnen und Senioren in der Stadt unterstützt und darum kämpft, Altersarmut sichtbar zu machen. „Mein persönlicher Anspruch ist politisch“, erklärt sie.
Menschen in Armut sollen selbstbestimmt leben und mitreden können, wenn es darum geht, wie viel Geld wirklich nötig ist für ein Leben in Würde. Auch deshalb erzählt sie ihre Geschichte. „Ich will, dass sich etwas ändert.“
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