Essen. In NRW fehlen 24.000 Pflegekräfte. Die Übriggebliebenen rufen nach Hilfe. Was sich ändern muss, damit sie bleiben. Experten mit Lösungsansätzen.

Alex und Kim möchten nicht erkannt werden. Sie sitzen in einem Café in einer Stadt im Ruhrgebiet, nicht weit entfernt arbeiten sie seit vielen Jahren in einem Krankenhaus. Es ist eine Klinik wie viele in der Region: etabliert, mit langer Tradition. Alex und Kim, die eigentlich anders heißen, arbeiten dort als Pflegekräfte. Ihr Beruf sei ihre Leidenschaft, sagen sie. Deswegen haben sie sich entschieden zu reden, obwohl sie Konsequenzen fürchten.

Wer in ein Krankenhaus eingeliefert wird, der weiß, wie stark das persönliche Wohlergehen von den Pflegerinnen und Pflegern abhängt. Doch Pflegepersonal wird zunehmend knapp, besonders in Krankenhäusern. Pfleger flüchten massenweise aus ihrem Job.

Fast ein Drittel der Pflegekräfte aus dem Beruf gegangen

In den vergangenen zehn Jahren hat laut einer bundesweiten Studie fast ein Drittel der Pflegekräfte ihren Beruf aufgegeben. Die Konsequenz: Allein in NRW waren zuletzt 24.000 Pflegestellen offen, 230 Tage dauert es einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie zufolge im Durchschnitt, bis eine Krankenpflegekraft besetzt werden kann.

Kim und Alex erleben in ihrer Klinik jeden Tag, was das bedeutet. Sie erzählen von Chefs, die nur ihre Zahlen im Blick haben, aber persönliche Konsequenzen androhen, wenn sich ein Mitarbeiter beschwert.

Von Patienten, die sich in der Klinik benehmen, als wären sie im Hotel. Von totaler Überforderung, wenn an allen Ecken das Personal fehlt. Von Fällen, in denen es einfach gewesen wäre, mit mehr Personal schwerwiegende gesundheitliche Folgen für die Patienten zu vermeiden. (Ein ausführliches Protokoll der beiden lesen Sie hier: Hilferuf von Pflegekräften: „Wir werden behandelt wie Hunde“)

5000.000 Pflegekräfte in zehn Jahren in Rente

Mit ihren Erzählungen zeigen die beiden gleichzeitig die Gründe für den Pflegenotstand auf, denn Kim und Alex überlegen, ihren Job aufzugeben. Es ist ein Teufelskreis: Je mehr Pflegerinnen und Pfleger gehen, desto höher wird der Druck auf die, die da sind. Und die Situation wird sich nach Einschätzung von Experten noch weiter zuspitzen: In den nächsten zehn bis zwölf Jahren gehen bundesweit 500.000 Pflegekräfte in Rente.

Wie könnte man das Problem lösen? Darüber haben wir mit Experten gesprochen. Hier stellen wir fünf Lösungsvorschläge vor – und erklären, welche Hürden es dabei jeweils gibt.

Pflegekräfte aus dem Ausland

Der Vorschlag: Wegen des hohen Fachkräftemangels werben Pflegeeinrichtungen und Politik immer offensiver um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Ausland. „Von Arbeitgebern hören wir zudem immer wieder, dass die ausländischen Fachkräfte sehr patientenorientiert arbeiten und viele neue Ideen mitbringen. Davon profitieren die Häuser in Deutschland“, sagt Marcel Schmutzler, Sprecher der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV).

Die Hürden: Integration erfordert einen langen Atem. „Die wenigsten Menschen, die hier ankommen, sprechen perfekt Deutsch“, sagt Schmutzler. Deshalb sei es wichtig, sie in ihrem Heimatland entsprechend vorzubereiten. In der Regel unterscheiden sich auch die Berufsabschlüsse voneinander. „In ihrer Heimat übernehmen die Menschen meist mehr Behandlungsaufgaben, gehen dem Arzt öfter zur Hand“, sagt Schmutzler.

Alltagspflege, etwa das Waschen von Patienten, das hier von Pflegekräften übernommen wird, sei in anderen Ländern Aufgabe von Familienangehörigen. Umso wichtiger ist nach Einschätzung des Experten deshalb, die Neuankömmlinge frühzeitig darüber zu informieren, welche Aufgaben sie hier erwarten.

Auch das Stammpersonal müsse über die neuen Kollegen informiert und bei der Einarbeitung unterstützt werden. Sinnvoll sei es zudem, die ausländischen Pflegekräfte in kleinen Gruppen gemeinsam mit anderen aus ihrer Heimat zu vermitteln, damit sie sich weniger fremd fühlen. Denn wenn die Integration nicht gelingt, wandern die Kräfte ab – und hinterlassen wieder eine Lücke auf dem Arbeitsmarkt.

Bisher wandern zudem viel zu wenige Pfleger ein, um die Lücke auf dem deutschen Arbeitsmarkt schließen zu können. Im Jahr 2021 haben sich rund 4000 ausländische Pflegekräfte auf eine Arbeitsstelle in NRW, Experten gehen davon aus, dass die Zahlen weiter steigen. Doch bei 24.000 offenen Stellen ist das nur eine kleine Hilfe.

>>>Wie kompliziert die Integration ist, aber wie sie auch gelingen kann, lesen Sie hier: Zuwanderung, hoch willkommen: Aus Afrika nach Bochum

Das sagen Alex und Kim: „Wir haben Kollegen auf der Station, die kein Deutsch sprechen. Obwohl die Kommunikation in der Klinik lebensnotwendig ist, verständigen wir uns daher oft nur mit Händen und Füßen. Pflegekräfte aus dem Ausland sind keine Unterstützung, wenn sie nicht richtig vorbereitet werden, bevor sie zu uns kommen.“

Mehr Leiharbeiter einsetzen

Der Vorschlag: Absehbare Engpässe in Krankenhäusern können mit Leiharbeit abgefedert werden. Das bedeutet, dass die Arbeitnehmer von einem Verleihunternehmen, bei dem sie in der Regel unbefristet angestellt sind, einem anderen Unternehmen für eine bestimmte Zeit überlassen werden.

Für die Pfleger ist das attraktiv: „In der Pflege ist die Leiharbeit, im Gegensatz zu anderen Branchen, attraktiv, weil sie ein höheres Gehalt, einen sicheren Dienstplan sowie eine flexible Arbeitgeberwahl und Arbeitsplatzausstattung bekommen“, sagt Carsten Hermes, Vorstandsmitglied der Pflegekammer NRW. Leiharbeit soll Kliniken dabei helfen, temporäre Personalengpässe zu überbrücken oder spezielle Fachkenntnisse kurzfristig zu nutzen. Hermes: „So könnte das Stammteam, bei vernünftiger Planung, entlastet werden.“

Die Hürden: Leider ist die Leiharbeit in der Pflege oft „Ausdruck eines kranken Systems“, sagt Hermes. Viele wechselten dorthin, weil sie sich von ihrem direkten Vorgesetzten nicht richtig eingesetzt und gefördert fühlen – und in der Leiharbeit mehr Vorteile für sich sehen. Denn häufig setzten Dienstplanverantwortliche das feste Personal bewusst auf die „unbequemen“ Nacht- und Wochenendschichten, während sie den Leiharbeitern günstigere Arbeitszeiten unter der Woche zuteilen.

Leiharbeiter können sich zudem gezielt für einen Bereich entscheiden, in dem sie arbeiten wollen. Das Stammteam wird stattdessen dort eingesetzt, wo gerade Personal fehlt. „Und im schlimmsten Fall bekommt es das erst zwei Tage vorher gesagt, während Pfleger in der Leiharbeit ihren Dienstplan schon Wochen vorher mit ihrem Vermittler abstimmen“, so der Experte. In erster Linie müssten sich also die Arbeitsbedingungen für das Klinikpersonal verbessern, nur so könne die Zusammenarbeit funktionieren, sagt Hermes.

Das sagen Alex und Kim: „Es gab Leiharbeiter, die eher eine Last als eine Stütze waren, ihnen war vieles egal und sie haben keine Verantwortung übernommen. Irgendwann wurde die Leiharbeit bei uns abgeschafft mit der Begründung, sie würde die Stimmung im Team verschlechtern.“

Servicekräfte für viele Aufgaben

Der Vorschlag: Pflegekräfte beklagen, dass sie auf Station immer öfter Serviceaufgaben übernehmen müssen. Denn in den Kosten, die Kliniken für die Behandlung von Patienten erstattet bekommen, sind Service-Aufgaben wie Essen anreichen nicht enthalten. „Um das Personal zu entlasten, brauchen Kliniken dringend Mittel, um Servicekräfte refinanzieren zu können“, fordert Pflegewissenschaftler Carsten Hermes.

Die Hürden: Auch die Servicekräfte müssten qualifiziert werden, um beispielsweise Patienten mit bestimmten Erkrankungen Essen anreichen zu können, so Hermes. Zudem brauche es pflegerisches Fachpersonal, dass das Servicepersonal beaufsichtigt und weisungsbefugt ist. „Dafür brauchen wir rechtssichere pflegerische Vorbehaltsaufgaben.“

Das sagen Alex und Kim: „Wir übernehmen die Aufgaben einer Servicekraft, verteilen zum Beispiel das Abendessen. Das alles, während im Nebenzimmer etwa ein Patient im Sterben liegt.“

Patienten häufiger nur ambulant behandeln

Der Vorschlag: „Mehr ambulante Behandlungen entlasten die Mitarbeiter vor Ort“, sagt Jürgen Wasem, Gesundheitsökonom an der Universität Duisburg-Essen. Das will Bundesgesundheitsminister Lauterbach durch seine geplante Krankenhausreform auch umsetzen. Nach dem bisherigen Vergütungssystem haben Kliniken den Anreiz, Patienten vollstationär aufzunehmen und zu behandeln.

Mit der Reform sollen die Häuser aber nicht mehr nur für einzelne Fälle, sondern auch für das Vorhalten von Leistungen bezahlt werden. „Wenn die Fallpauschale künftig geringer gewichtet wird, nimmt das den Druck für die Kliniken raus, stationär behandeln zu müssen“, so Wasem.

Die Hürden: Was das im Detail bedeutet und zu welchen Konditionen, darüber rätseln die Beteiligten derzeit noch. Auch könnten die erhöhten ambulanten Angebote von Kliniken zu Lasten von niedergelassenen Fachärzten fallen.

Zusammenlegung der Kliniken

Der Vorschlag: Durch die Zusammenlegung der Krankenhäuser könne Personal entlastet werden, sagt Jürgen Wasem. Obwohl in vielen Kliniken längst nicht alle Betten belegt sind, muss derzeit Pflegepersonal vorgehalten werden. „In den Krankenhäusern haben wir eine durchschnittliche Patientenauslastung von 70 Prozent“, so Wasem. „Wenn durch die Reform nun zwei Kliniken zusammengelegt werden und das Haus dann zu 90 Prozent ausgelastet ist, wird insgesamt weniger Personal am Tag benötigt.“

Die Hürden: An der Reform gibt es von zahlreichen Kliniken Kritik. So werden sich etwa die Wege für viele Klinik-Mitarbeiter zu ihrem Arbeitsplatz deutlich verlängern. Zwar sieht die Reform vor, dass die Anfahrt mit dem Auto nicht länger als 20 Minuten dauern sollte. Unklar ist die Situation jedoch für Menschen, die mit Bus und Bahn anreisen und schlecht angebunden sind.

Frustrierte Pflegekräfte wiedergewinnen

Ein großer Schritt zum Schließen der Pflegelücke könnte übrigens ausgerechnet die Wiedergewinnung der Frustrierten sein. Forscher verschiedener Institute haben gefördert von der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung ausgerechnet: Durch einen Wiedereinstieg in den Beruf oder eine Aufstockung der Arbeitszeit stünden in Deutschland mindestens 300.000 Vollzeit-Pflegekräfte zusätzlich zur Verfügung. Dafür, sagen die Forscher, müssten sich die Arbeitsbedingungen jedoch deutlich verbessern.