Düsseldorf. Laut Grundgesetz haben Deutsche das Recht, sich zu versammeln. Heißt das etwa, dass Ausländern das Demonstrieren verboten werden kann?
- Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) irritierte am Wochenende mit der Aussage, das Versammlungsrecht stehe nur Deutschen zu.
- Einen Tag später korrigierte sie sich: "Natürlich haben Ausländer ein Versammlungsrecht"
- Tatsächlich ist das Grundgesetz in diesem Punkt nicht ganz eindeutig.
Nach der verstörenden Anti-Israel Demo in Essen am 3. November mit judenfeindlicher Hetze und Rufen nach einem Kalifat nimmt in NRW die Diskussion über Einschränkungen des Versammlungsrechts Fahrt auf. Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hatte zunächst sogar ein Demo-Verbot für Ausländer ins Gespräch gebracht, ruderte aber am Montag zurück. Vorübergehend stand die Frage im Raum, ob sich aus dem Grundgesetz tatsächlich ein Versammlungsrecht nur für Deutsche herleiten lasse.
Versammlungsrecht: Das Grundgesetz spricht von "Deutschen"
Die Diskussion dreht sich um Artikel 8 des Grundgesetzes und damit um ein Grundrecht: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“, steht im ersten Absatz. Heißt das im aktuellen Kontext, dass man Menschen, die keinen deutschen Pass haben, eine Pro-Palästina-Demo verbieten könnte?
Diese Frage, die sich bisher kaum jemand gestellt hat, wird angesichts der umstrittenen Demonstrationen gegen Israel plötzlich angeregt diskutiert.
Im Innenausschuss des Landtags brachte vor wenigen Tagen der AfD-Landtagsabgeordnete Markus Wagner die anderen Fraktionen gegen sich auf, als er Forderungen nach einem Beschneiden der Versammlungsfreiheit mit Artikel 8 des Grundgesetzes verknüpfte: Es müsse die Frage nach der Staatsangehörigkeit der Demo-Anmelder gestellt werden. Weiter sagte er: „Wir sollten keine Grundrechte einschränken aufgrund von Personen, die in diesem Land nichts verloren haben.“
Demonstrationsrecht: Kurzes "Duell" zwischen Ex-Ministerin und Justizminister
„Unerträglich“ nannte Christos Katzidis (CDU) diese Wortmeldung, die Grünen-Abgeordnete Julia Höller hält sie zudem für „menschenverachtend“, und es wäre wohl bei einem wenig beachteten Disput im Innenausschuss geblieben, wenn nicht kurz darauf die renommierte Juristin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die zudem NRW-Antisemitismusbeauftragte in NRW ist, das Versammlungsrecht für Ausländer im Interview mit dem WDR ernsthaft infrage gestellt hätte: „Wenn die Versammlung in NRW angemeldet wird, dann muss geprüft werden, wie die Staatsangehörigkeit ist, denn das ist eines der wenigen Grundrechte, das nur Deutschen zusteht.“
Diese Einschätzung provozierte umgehend Widerstand von Juristen, allen voran NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne). Leutheusser-Schnarrenberger rückte daraufhin ihre Äußerungen zur Versammlungsfreiheit von Ausländern gerade. Sie bedaure, mit falschen, missverständlichen Äußerungen für Irritationen gesorgt zu haben, sagte sie am Montag der Deutschen Presse-Agentur. Sie plädiere keineswegs dafür, das Versammlungsrecht nur Deutschen zuzugestehen. „Natürlich haben Ausländer ein Versammlungsrecht“, betonte die Liberale.
Versammlungsrecht: Leutheusser-Schnarrenberger rudert zurück
Es gehe ihr nur darum, dass noch intensiver als bisher geprüft werde, wer eine Versammlung anmelde und ob es Verbindungen zu verbotenen Organisationen oder Hinweise auf frühere antisemitische oder ähnlich problematische Äußerungen gebe. „Und da kann natürlich auch mal ein Migrationshintergrund eine Rolle spielen“, so die Politikerin. Das tangiere aber nicht das Versammlungsrecht in Deutschland und in NRW.
Da hatte NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) längst klargestellt, dass im Grundgesetz auch Demonstrationen von Nicht-EU-Ausländern geschützt seien, zwar nicht über die Versammlungsfreiheit nach Artikel 8, wohl aber über die allgemeine Handlungsfreiheit nach Artikel 2 Absatz 1. Darüber hinaus gebe das Versammlungsgesetz NRW „jeder Person“ das Recht, sich friedlich zu versammeln.
„An der richtigen und grundsätzlichen Wertentscheidung des Versammlungsgesetzes NRW, dass jede Person das Recht hat, sich friedlich zu versammeln, halte ich fest“, sagte Limbach dieser Redaktion. Das Recht zu friedlichen Versammlungen solle nicht von der Staatsangehörigkeit abhängen.
Versammlungsrecht: Bochumer Rechtsprofessor löst das Rätsel auf
Diese Einschätzung teilt Prof. Wolfram Cremer, Experte für Öffentliches Recht an der Ruhr-Uni Bochum. „Das Grundgesetz erlaubt tatsächlich bei der Versammlungsfreiheit eine Differenzierung zugunsten von Deutschen. Es ist aber nicht so, dass das Grundgesetz Ausländern keine Versammlungsfreiheit gewährt“, erklärt er. Hier greife in der Tat Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
Dieser Artikel 2 werde vom Bundesverfassungsgericht im Sinne einer „allgemeinen Handlungsfreiheit“ interpretiert. „Das heißt im Prinzip: Jeder kann tun und lassen, was er will. Darauf können sich in Deutschland alle Menschen berufen, unabhängig von der Staatsangehörigkeit“, so Cremer. Außerdem liege es im Ermessen der Gesetzgebung des Bundes und der Länder, den Grundrechtsschutz großzügiger auszugestalten als das Grundgesetz es verlange.
Der SPD-Rechtsexperte Sven Wolf sagte am Montag: „Da hat Frau Leutheusser-Schnarrenberger noch die Kurve gekriegt. Alles andere hätte mich auch sehr gewundert. Es spricht für ihre Größe, dass sie ihren Fehler sofort erkannt und eingeräumt hat.“ Die Versammlungsfreiheit sei ein hohes Gut, ein Menschenrecht und stehe allen zu.
Leutheusser-Schnarrenberger hatte erst vor wenigen Tagen darüber informiert, dass die Zahl judenfeindlicher Straftaten in NRW seit dem Terror der Hamas gegen Israel stark zugenommen habe.
Versammlungsrecht im Wortlaut:
In Paragraf 1 Absatz 1 des NRW-Versammlungsgesetzes steht: „Jede Person hat das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen mit anderen zu versammeln und Versammlungen zu veranstalten.“
Im Versammlungsgesetz des Bundes steht eine ähnliche Formulierung: „Jedermann hat das Recht, öffentliche Versammlungen und Aufzüge zu veranstalten und an solchen Veranstaltungen teilzunehmen.“
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