Essen. Das Ruhrparlament hat den Regionalplan Ruhr verabschiedet - samt Extrabeschluss zum umstrittenen Kiesabbau. Kritik daran gab es von den Linken.

Die Rede ist von einem „historischen Moment“, von einem „Zukunftsplan“ für das Ruhrgebiet: Die Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr (RVR) hat heute mit großer Mehrheit den Regionalplan Ruhr beschlossen. Nach mehr als 55 Jahren bekommt das Ruhrgebiet damit wieder einen eigenen und einheitlichen Regionalplan.

Neuer Regionalplan beendet „Hineinregieren“ ins Ruhrgebiet

Mit dem Beschluss des Ruhrparlaments geht ein mehrjähriges Aufstellungsverfahren mit einer intensiven öffentlichen Beteiligung zu Ende. Der Regionalplan Ruhr löst die bestehenden Pläne der drei Bezirksregierungen in Arnsberg, Düsseldorf und Münster ab. Das mehrere Aktenordner starke Papier legt für Jahrzehnte fest, wo an der Ruhr Wohnungen gebaut werden dürfen, wo Gewerbe und Industrie angesiedelt werden soll und wie viel Grün wir eigentlich brauchen, um als dicht besiedelter Ballungsraum lebenswert zu sein und den Folgen des Klimawandels trotzen können. Um das Mammutwerk wurde Jahre gerungen. Ein Überblick.

Unsere Texte zum Schwerpunkt über den Regionalplan Ruhr:

Hernes OB Frank Dudda lobt gemeinsame Planungsphilosophie

Regionalplan Ruhr – was heißt das eigentlich?

Der erste gemeinsame Ruhr-Regionalplan ist ein Rahmenplan für die 53 Kommunen und vier Landkreise im Bereich des Regionalverbandes Ruhr (RVR). Wenn das Ruhrparlament auf seiner heutigen Sondersitzung erwartungsgemäß grünes Licht gibt, endet damit das jahrzehntelange Hineinregieren von drei Bezirksregierungen in die planerischen Belange des größten deutschen Ballungsraumes. Das Ruhrgebiet erhält damit eine wichtige Verwaltungskompetenz zurück. Die Ausweisung von teils neuen Wohnbau- und Gewerbeflächen, die Sicherung von Grünzügen und Naturschutzgebieten, die Festlegung von Verkehrswegen und Versorgungsinfrastruktur – all das bestimmt die Region in ihren Grenzen künftig selbst. Hernes Oberbürgermeister Frank Dudda sprach gegenüber der WAZ sogar von einer „historischen Entscheidung“. Die Planungsidee, das Ruhrgebiet zur grünsten Industrieregion der Welt zu machen, sei einzigartig, sagte der SPD-Politiker, der auch Vorsitzender des Ruhrparlaments ist.

Warum ist der Regionalplan wichtig?

Der Regionalplan legt die grundlegende Flächennutzung einer größeren Region fest. Er ist für die Kommunen bindend. Beispiel: Ein im Regionalplan ausgewiesenes Naturschutzgebiet kann von einer Stadt nicht einfach zum Baugebiet umgewidmet werden. Die Umwidmung müsste zunächst beim RVR als übergeordnete Planungsbehörde beantragt und dort auf regionale Verträglichkeit geprüft werden. Das gilt auch für den umgekehrten Weg. Beispiel: Wollte die Stadt Dortmund ihren Flughafen aufgeben und die Fläche zum Gewerbe- oder Wohngebiet machen, müsste sie auch dafür zunächst beim RVR vorstellig werden. Der Dortmunder Flughafen steht als Verkehrsfläche im Regionalplan.

Städte können auf 24 großen Gewerbestandorten zusammen planen

Sind Gewerbe- und Industrieansiedlungen im großen Stil möglich?

Im Prinzip ja. Sorgen sollen dafür die 24 so genannten Kooperationsstandorte. Der RVR hatte die Planung dieser städteübergreifenden Groß-Gewerbegebiete nach dem blamablen Aus der ersten Regionalplan-Fassung im Herbst 2019 auf Drängen der Ruhrwirtschaft vorgezogen. Diese Flächen mit einer Gesamtgröße von 1345 Hektar gelten als Schlüssel für erfolgreiche Neuansiedlungen von Unternehmen und damit Arbeitsplätzen im Revier. Die Städte können seitdem große zusammenhängende Flächen gemeinsam entwickeln, die sie allein über ihren kommunalen Bedarf planerisch sonst nicht hätten begründen können. Im bundesweiten Standorte-Wettbewerb sind aber selbst die Kooperationsstandorte nur Mittelfeld. Zum Vergleich: Die geplante Chip-Fabrik des US-Halbleiterriesen Intel in Magdeburg soll allein 450 Hektar umfassen. Für das Tesla-Autowerk in Brandenburg waren 300 Hektar vorhanden. Laut RVR weist der Regionalplan insgesamt rund 5100 Hektar zusätzliche Ansiedlungsflächen aus.

Viele politische Akteure in der Region wollen das Ruhgebiet zur grünsten Industrieregion der Welt machen. Schlägt sich dieses Ziel im Regionalplan nieder?

Entlang der Daten, die dem Plan zugrunde liegen, wirkt das Ruhrgebiet schon heute ziemlich grün. Nahezu die Hälfte der rund 4400 Quadratkilometer großen Gesamtfläche sind entweder unbebauter Freiraum oder landwirtschaftlicher Bereich. Ein weiteres Fünftel des Reviers ist bewaldet, drei Prozent sind von Gewässern durchzogen. Die meisten Grünflächen liegen freilich dort, wo das Revier ohnehin in ländliche Landesteile übergeht, also im Norden und Nordwesten. Für Gewerbe und Industrie stehen laut Regionalplan insgesamt nur gut sechs Prozent zur Verfügung. Der RVR sagt, dass das Revier dennoch den höchsten Gewerbeflächenanteil aller NRW-Planungsregionen hat. Siedlungsraum im engeren Sinne gibt es nicht einmal auf einem Viertel der Gesamtfläche (23 Prozent).

Grünzüge als Kaltluftschneisen

Was hat es mit den so genannten Grünzügen auf sich?

Auf die regionalen Grünzüge, die noch auf alte Planungen des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk aus den 1920-er Jahren zurückgehen, sind die Regionalplaner besonders stolz. Das Netz aus Parks, Wäldern, Agrarflächen und anderen Grünbereichen, das das Ruhrgebiet trotz der dichten Besiedlung und der zusammengewachsenen Stadtlandschaft selbst im Kernbereich durchzieht, soll unbedingt erhalten bleiben. Und nicht nur zum Spaziergehen dienen: Als Kaltluftschneisen sorgen die Grünzüge dafür, dass sich die Innenstadtbereiche im Sommer weniger stark aufheizen.

Welche Besonderheiten zeichnen das Ruhrgebiet planerisch aus?

Vor allem die schiere Größe. Mit seinen 5,1 Millionen Einwohner ist das Ruhrgebiet nicht nur die einwohnerstärkste der sechs Planungsregionen in NRW, sondern in dieser Kategorie auch bundesweit spitze. Hinzu kommt die ungewöhnlich polyzentrische Struktur mit den vier Kerngroßstädten Dortmund, Bochum, Essen und Duisburg sowie zahlreichen Mittelzentren. Außerdem gibt es im Ruhrgebiet viele Akteure, die bei einem so breit aufgestellten Planungswerk Mitspracherecht genießen. Laut RVR mussten im Verlauf der rechtlich vorgeschriebenen Öffentlichkeitsbeteiligungen allein 450 Kommunen, Behörden, Verbände, Gewerkschaften und andere Institutionen angehört werden. In drei Offenlegungsrunden kamen insgesamt 17.000 Einsprüche zusammen. Jeder einzelne musste von den RVR-Planungsleuten geprüft und kommentiert werden. Der im Kern vergleichsweise überschaubare Regionalplan wuchs dadurch erheblich an. Die Vorlage, über die die direkt gewählten Ruhr-Politiker heute entschieden haben, ist 12.766 Seiten stark.

Extrabeschluss zum Kies- und Sandabbau am Niederrhein

Um den Regionalplan gab es viel Streit. Sind nun alle Konflikte beigelegt?

17.000 Einsprüche und deren Beantwortung deuten darauf hin, dass viele Belange berücksichtigt werden konnten. Der RVR spricht von einem „intensiven Konfliktlösungsprozess“. Dennoch: Die großen Konfliktlinien zwischen Umweltschutz auf der einen Seite und Wirtschaftsinteressen auf der anderen wirken fort. In Witten geht der Streit um ein neu ausgewiesenes Gewerbegebiet nun innerstädtisch weiter. Größter Knackpunkt bleibt der Kies- und Sandabbau am Niederrhein. Dort prallen die Interessen von Umweltschützern und Kiesindustrie unvermindert aufeinander. Der Kreis Wesel bereitet bereits eine Klage gegen den Regionalplan vor, der den Abbau als wichtige Rohstoffquelle grundsätzlich weiter zulässt. Nach Inkrafttreten des Regionalplans will die RVR-Politik die Situation des Kies- und Sandabbaus am Niederrhein weiter beobachten. Dazu gab es am Freitag einen fraktionsübergreifenden Begleitantrag zum Regionalplan-Beschluss.

Die Linke-Fraktion im Ruhrparlament hat sich enthalten. Warum?

Die Linken im Ruhrparlament sagen, dass im Regionalplan „einige positive Akzente“ gesetzt seien. Es sei jedoch nicht gelungen, „die Festlegung der Kiesabbauflächen im Kreis Wesel einvernehmlich und im Konsens mit den Kommunen und dem Landkreis zu regeln“, teilte die Fraktion nach der Sitzung mit. „Wir hätten uns hier mehr Mut gewünscht und haben versucht, durch einen Begleitantrag wenigstens zu erreichen, dass die Verwaltung beauftragt wird, den Abbau nach den ,konfliktärmsten‘ Flächen zu priorisieren, so dass der Kreis Wesel als Genehmigungsbehörde sich darauf berufen könnte“, betonte Fraktionschef Wolfgang Freye.

2019 kam es zum Eklat um den Regionalplan. Was war da passiert?

Der Streit um den Regionalplan hatte den RVR vor Jahren selbst in eine tiefe Krise gestürzt. Im September 2019 musste die Verbandsspitze einräumen, die ursprünglich angesetzte Frist zur Fertigstellung noch vor der Kommunalwahl 2020 nicht einhalten zu können. Der Vorwurf handwerklicher Fehler der RVR-Planungsabteilung stand im Raum, am Ende musste der damalige RVR-Planungsdezernent Martin Tönnes (Grüne) gehen. Hinzu kam ein monatelanger Streit mit der Ruhr-Wirtschaft, die dem RVR vorhielt, zu wenig Gewerbeflächen im Regionalplan auszuweisen und dadurch die wirtschaftliche Entwicklung des Ruhrgebiets zu gefährden. Sogar Forderungen nach einer Teilentmachtung des RVR wurden in der Folge laut. Als Reaktion darauf brachte der RVR die Planung der 24 Großstandorte im Jahr 2021 vorzeitig auf den Weg.