Essen/Bonn. Der Vorsitzende des Bonner Palästina-Forums verurteilt Anti-Israel-Demos scharf. Welche Fehler er aber auch bei der deutschen Politik sieht.
Etwa 3000 Menschen zogen am vergangenen Freitag durch die Innenstadt von Essen, rund 17.000 protestierten in Düsseldorf für die Anliegen der Palästinenser und gegen das Vorgehen Israels nach den Angriffen der Hamas. Sie schwenkten Fahnen mit Symbolen, die den Zeichen der verbotenen IS ähnelten. Diese umstrittenen Demonstrationen mit islamistischem Beiklang dienten nicht den Zielen der Palästinenser, sagt Dr. Aref Hajjaj, Vorsitzender des Palästina-Forums in Bonn. Im Gespräch mit Christopher Onkelbach beklagt er aber auch gravierende Fehler der deutschen Politik.
Tausende Menschen zeigten bei Demonstrationen ihre Solidarität mit Palästina. Einige zeigten Symbole, die verbotenen IS-Zeichen ähnelten und forderten das Kalifat. Was denken Sie, wenn Sie das sehen?
Aref Hajjaj: Ich verurteile das in aller Schärfe! Was hat der Kalifat-Gedanke mit Palästina zu tun? Gar nichts! Die Instrumentalisierung des Konflikts durch den politischen Islam dient nicht der Sache der Palästinenser. Wir leben im 21. Jahrhundert, was wollen wir mit einem Kalifat? Was mich zudem irritiert hat, war die Trennung der Geschlechter bei dem Demonstrationszug. Ich bin ein säkularer und liberaler Mensch und lehne das ab. Wie viele Bürgerinnen und Bürger bin auch ich mit vielen Palästinensern entsetzt über diese Demonstrationen.
Die Politik in NRW diskutiert nun über eine Verschärfung des Versammlungsrechts, ist das die richtige Konsequenz?
Keinesfalls! Diese Forderungen sind Ausdruck einer politischen und medialen Vereinfachung. Wenn eine kleine Minderheit etwas Unsinniges tut, dann wird sofort nach einer Verschärfung der Gesetze gerufen. Das Demonstrationsrecht ist ein wichtiges Element der rechtsstaatlichen Staatsordnung. Das zu verändern, wäre grundfalsch. Ich denke, die Forderung wird aus Rücksichtnahme auf Israel erhoben. Würde es in dem Konflikt nicht um Israel, sondern um irgendein anderes Land gehen, würde es diese Debatte nicht geben. Eine Verschärfung wurde zudem die Falschen treffen, nämlich jene, die für eine gerechte und plausible Sache auf die Straße gehen.
Wird bei den Demonstrationen plötzlich sichtbar, wie viele Menschen mit islamistischer Gesinnung in Deutschland leben?
Ich habe politische Wissenschaften studiert. Ich warne vor Schnellschüssen und Verallgemeinerungen, nach dem Motto: Die Palästinenser ticken alle im Sinne des politischen Islam. Dafür sehe ich keine Belege.
Aber Tausende sind dem Aufruf gefolgt…
Nach meinem Wissen und meinen Erfahrungen ist es zu einfach, die Palästinenser über einen Kamm zu scheren. In Deutschland teilt sich die Community grob gesagt in drei Gruppen auf: Etwa 20 Prozent sind Anhänger des politischen Islam, rund 60 Prozent sind gemäßigt fromm und patriotisch eingestellt, aber sie sind nicht fanatisch. Weitere 20 Prozent sind liberal und westlich orientiert.
Nach den Gräueltaten der Hamas gab es keine hörbaren Reaktionen der Palästinenser in Deutschland, warum nicht?
Das halte auch ich für einen großen Fehler. Nach den Gräueltaten der Hamas hätte es zu einer erkennbaren Reaktion kommen müssen. Doch man muss sehen, dass die Palästinenser seit der Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens 1967 frustriert, traumatisiert und zersplittert sind. Rund 700.000 israelische Siedler leben nun in der Westbank, sie haben die Palästinenser vertrieben, ihr Hab und Gut zerstört, Hunderttausende Olivenbäume gefällt und Häuser auf palästinensischem Boden gebaut. Man kann daher verstehen, dass sich das politische Mitgefühl mit den Israelis in Grenzen hält. Nun kommen die Bombardements des Gazastreifens mit Tausenden Toten hinzu. Man sollte die Palästinenser also nicht moralisch überfordern. Dennoch halte ich es für falsch, dass die Palästinenser in Deutschland nicht gegen die Gewalt auf beiden Seiten protestiert haben.
Die Debatte um den Nahostkonflikt ist verhärtet, wie kann Deutschland helfen, den Dialog wieder aufzunehmen?
Ja, das Klima ist vergiftet. Dazu hat auch die deutsche Nahostpolitik beigetragen, sie war noch nie so einseitig Israel bezogen wie jetzt. Ich habe 30 Jahre als arabischer Dolmetscher für das Auswärtige Amt gearbeitet, ich habe Minister und Bundeskanzler auf Nahostreisen begleitet. In der Ära der 70er- und 80er-Jahre war die Nahostpolitik wesentlich ausgewogener.
Woran machen Sie das fest?
Damals folgte die deutsche Nahostpolitik drei Grundsätzen: Die Anerkennung des Existenzrechts Israels, die Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser sowie die Forderung nach einer Räumung israelischer Siedlungen. Heute reden Robert Habeck, Annalena Baerbock (Grüne) und Olaf Scholz (SPD) nur noch von einem Siedlungsstopp. Das ist lächerlich angesichts der Tatsache, dass es bereits 700.000 jüdische Siedler auf palästinensischem Gebiet gibt. Die deutsche Politik steht einseitig an der Seite Israels. Daher ist Deutschland kein guter Vermittler zwischen Juden und Palästinensern. Ich sehe in Berlin zu wenig Gesprächsbereitschaft, Fingerspitzengefühl und Pragmatismus.
Die deutsche Politik will keinen Antisemitismus dulden und steht auf Seiten Israels, was ist daran falsch?
Ich verstehe die besondere Verantwortung Deutschlands für die Juden, Antisemitismus ist ein gefährliches Gift. Aber die Gesamtheit des Konflikts auf die Bekämpfung des Antisemitismus zu reduzieren, ist nicht richtig. Es ist nicht differenziert, stets nur von israelischen Opfern und palästinensischen Terroristen zu sprechen. Für die Eskalation, auch wenn sie am 7. Oktober brutal von der Hamas ausging, trägt auch Israel eine nicht geringe Verantwortung.
Wie nehmen Sie die Stimmung in der deutschen Bevölkerung wahr?
Die Meinung in der deutschen Bevölkerung ist viel ausgewogener als beim politischen und medialen Mainstream. Die Menschen sind entsetzt über die furchtbaren Angriffe der Hamas. Aber sie sind auch entsetzt über die aktuellen Geschehnisse in Gaza. Die Menschen haben durchaus Verständnis für das Leid der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten. Das spüre ich deutlich bei meinen Lesungen und Vorträgen.
Welche Zukunft sehen Sie für Palästina, gibt es überhaupt noch Hoffnung?
Ich bin im Alter von fünf Jahren aus Palästina vertrieben worden. Meine Eltern und Großeltern haben sich mit palästinensischen Juden genauso gut verstanden wie mit palästinensischen Christen. Ja, wir müssen pessimistisch sein angesichts der Entwicklung, aber wir dürfen nicht alle Zukunftsoptionen fallen lassen. Fakt ist, dass eine andauernde Besetzung und Besiedlung Palästinas nicht akzeptabel ist. Fakt ist auch, dass die Zwei-Staaten-Lösung derzeit unrealistisch ist. Ich hänge der Idee eines gemeinsamen Staates mit Israelis und Palästinensern. Das kann langfristig eine Lösung sein, auch wenn es heute visionär klingt.
Aber ist das nicht eine ferne Utopie?
Natürlich ist es eine Vision, aber ich sehe keine Alternative. Ich bin oft in Israel, eine friedliche Koexistenz zwischen israelischen Juden und israelischen Palästinensern gelingt ja mancherorts bereits, wie etwa in Jaffa, Haifa, Akko oder Nazareth. Ein gemeinsamer Staat, eine liberale, säkulare Demokratie, föderal organisiert in Kantonen wie in der Schweiz. Wenn beide Seiten die gleichen Rechte haben, wäre das eine Möglichkeit, die Region zu befrieden. Leider ist der Wille dazu noch nicht vorhanden.
>>>> Zur Person: Aref Hajjaj
Dr. Aref Hajjaj wurde im Februar 1943 in Jaffa/Palästina geboren. Nach der Vertreibung 1948 wuchs er in Beirut und Kuwait auf. Er studierte in Heidelberg Politikwissenschaft, Geschichte und Völkerrecht. Nach der Promotion arbeitete er 30 Jahre lang im deutschen Außenministerium als Dozent für Landeskunde und Kultur und arabischer Dolmetscher und begleitete etwa Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher oder Helmut Schmidt auf Nahostreisen.
Seit 2003 ist Hajjaj Vorsitzender des Palästina-Forums Bonn. Zuvor war er Vizepräsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft. 2010 erschien sein Buch „Angekommen in Deutschland – Der Preis der Integration“. Anfang 2017 veröffentlichte er „Land ohne Hoffnung? – Arabischer Nationalismus, politischer Islam und die Zukunft Palästinas“. Hajjaj ist mit einer Schweizerin verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.