Essen. Maria Schmidt ist eine von vielen, die verzweifelt einen OGS-Platz für ihr Kind sucht. Diese sind an NRW-Grundschulen rar. Was Träger fordern.

Maria Schmidt und ihr Mann haben diesen einen großen Wunsch. Sie möchten ihre kleine Tochter den ganzen Tag in guten Händen wissen. Im nächsten Jahr wird sie eingeschult, die Anmeldungen für die Grundschulen laufen bereits. Für Maria Schmidt und ihren Mann ist klar: Es muss die Grundschule um die Ecke sein. Die, zu der ihre kleine Tochter alleine hinlaufen kann. Auf die auch ihre künftigen Spielkameraden aus dem Viertel gehen dorthin.

Schmidt, die ihren richtigen Namen nicht öffentlich lesen möchte, war sich immer sicher: Einer Einschulung an der Bochumer Grundschule steht nichts im Weg. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie erfuhr, dass die Plätze für den Offenen Ganztag (OGS) an der Schule knapp sind. „320 Schülerinnen und Schüler kommen auf 165 Plätze, die eine Betreuung bis 16 Uhr bieten“, erklärt Schmidt. Den Vortritt haben Alleinerziehende und Familien mit sozialen Härtefällen. Zwar nimmt nicht jedes Elternteil das OGS-Angebot in Anspruch, „dennoch ist es eine Zitterpartie“, sagt die junge Mutter. Ihr Mann arbeitet in Vollzeit, sie Teilzeit im Schichtdienst. „Ohne den OGS-Platz müsste ich meine Arbeit komplett umstellen.“

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So wie den Schmidts geht es vielen Eltern in NRW. Schon jetzt fehlen zehntausende OGS-Plätze. Absehbar werde der Druck weiter steigen, da ab dem Jahr 2026 ein Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz greift. Die Hintergründe:

Eltern, Gewerkschaften, Träger

In einem Brandbrief fordert ein Bündnis von Landeselternbeirat NRW, den Gewerkschaften Verdi, GEW und DGB sowie der Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege NRW als Dachverband vieler Träger von der Landesregierung einen „Rettungsschirm“ für Kitas und Offene Ganztagsschulen. „Mitarbeitende gehen auf dem Zahnfleisch und die Träger der Organisationen versinken in immer tieferen finanziellen Defiziten“, heißt es in dem Schreiben.

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Viele Träger gerieten in Existenznot. „Ganz akut geht es darum, Schließungen zu verhindern und es Trägern zu ermöglichen, ihre Mitarbeitenden angemessen zu entlohnen“, sagt Christian Woltering, Vorsitzender der Freien Wohlfahrtspflege NRW. Der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz ab 2026 müsse „politisch unbedingt realisiert werden“.

Folgen für Eltern und Kinder

Ohne einen OGS-Platz sei für viele Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schwierig, sagt Birgit Völxen von der Landeselternschaft der Grundschulen NRW. Leidtragend seien vor allem Frauen, die häufig die Sorgearbeit in der Familie übernehmen. „Für die Familien kann das Stress zuhause und ein geringeres Einkommen bedeuten“, warnt Völxen. Wenn Eltern einen OGS-Platz ergattern konnten, sei dieser oftmals weit vom Wohnort entfernt. Elterntaxis müssten weite Strecken zurücklegen. „Und Kindern geht ein Stück Autonomie verloren, da sie nicht mehr selbstständig den Schulweg antreten könnten“, sagt Völxen.

Ein Beispiel der Stadt Essen

Bereits jetzt registriert die Stadt wegen steigender Schülerzahlen einen höheren Bedarf an OGS-Plätzen. Die Anzahl der Gruppen werde jährlich erhöht. Dafür müssten Fach- oder Klassenräume in Betreuungsräume umfunktioniert werden. Mit Blick auf den Rechtsanspruch ab 2026 stellen die notwendigen zusätzlichen Räume und Fachkräfte die Stadt vor Probleme. Eine Arbeitsgruppe soll geeignete Maßnahmen zur Gewinnung von Fachpersonal erarbeiten.

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Wenn laut Prognosen 85 Prozent der Eltern einen Bedarf an einem OGS-Platz zum Schuljahr 2026/27 anmelden, müsste Essen 4150 Plätze schaffen, was zusätzliche Kosten von „mindestens 2,5 Millionen Euro pro Schuljahr“ bedeute. Insgesamt wendet die Stadt derzeit rund 7,2 Millionen Euro als Eigenanteil für die Ganztagsbetreuung auf. „Angesichts der Haushaltssituation der Kommunen im Ruhrgebiet ist die finanzielle Beteiligung des Landes an den notwendigen Ausbauschritten zwingend erforderlich“, betont die Stadt auf Nachfrage.

Der NRW-Städtetag wirft der schwarz-grünen Landesregierung schwere Versäumnisse beim Ausbau der Ganztagsbetreuung für Grundschüler vor. „Wir müssten als Städte eigentlich längst angefangen haben, auszubauen und zu sanieren und Platz für die zusätzlichen Ganztagsangebote zu schaffen“, sagte der Vorsitzende des Städtetags NRW und Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen kürzlich.

Das Schulministerium

Einen Engpass bei der Ganztagsbetreuung an Schulen erkennt das Ministerium aktuell offenbar nicht: „In den vergangenen Jahren konnten sämtliche von den Kommunen beantragten Betreuungsplätze durch das Land bewilligt und damit gefördert werden“, teilt das Schulministerium mit. Damit die Bundesmittel für den Ganztagsausbau möglichst schnell bei den Schulträgern ankommen, habe das Ministerium bereits Ende April eine Förderrichtlinie mit dem Bund auf den Weg gebracht. Diese werde derzeit mit den Kommunalen Spitzenverbänden „final abgestimmt“. NRW befinde sich für die weitere OGS-Entwicklung „in einer guten Ausgangslage“, so das Ministerium. Mit den Mitteln des Bundes stünden insgesamt knapp 900 Millionen Euro für Investitionen in den Ganztagsausbau zur Verfügung.

Kritik am Rechtsanspruch

Die Landeselternschaft begrüßt den künftigen Rechtsanspruch auf einen OGS-Platz, denn „es muss genügend Druck im System sein, damit sich etwas bewegt“, sagt Birgit Völxen. Allerdings sei die Bundesverwaltungsvorschrift viel zu spät gekommen, kritisiert sie. Für die Kommunen sei es nun zum Teil fast unmöglich, in diesem Jahr die nötigen Maßnahmen für OGS-Plätze zu beschließen. „So wird 2026 kaum ein Ganztag in dem Umfang möglich sein, in dem wir ihn brauchen.“

Zudem gehe es bei der Ganztagsbetreuung nicht allein um eine Bleibe für die Kinder. Entscheidend sei vor allem die Qualität der Betreuung, findet Völxen. „Wir brauchen genug Fachkräfte, die individuell auf die Kinder eingehen und Angebote machen können, ein kluges Miteinander der Vor- und Nachmittagsbetreuung und genügend Platz für die Kinder.“

Die Mutter

Maria Schmidt bekommt wahrscheinlich erst im kommenden Frühjahr Bescheid, ob der OGS-Platz für ihre Tochter bewilligt wird. Deshalb schauen sie und ihr Mann sich bereits an anderen Grundschulen um. Die könnten sie allerdings nur mit dem Auto erreichen. „Das finde ich schade“, sagt Maria Schmidt, „weil ich für mein Kind die beste Grundschule möchte, letztlich aber nach der Vereinbarkeit mit meinem Job entscheiden muss.“

Der Rechtsanspruch

Im Oktober 2021 hat die Bundesregierung den Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung in Grundschulen rechtlich verankert: Ab August 2026 sollen zunächst alle Kinder der ersten Klasse einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung haben. In den Folgejahren soll der Anspruch um je eine Klassenstufe ausgeweitet werden. Ab August 2029 hat folglich jedes Grundschulkind der Klassen 1 bis 4 einen Anspruch auf einen OGS-Platz.