Düsseldorf. Die verschobenen Klausuren haben ein Nachspiel im Landtag. Dabei zeigt sich, wie blank die Nerven nach der Blamage liegen.
Während 30.000 Abiturienten in Nordrhein-Westfalen am Freitagmorgen über ihren verspäteten Klausuren sitzen, steht für Dorothee Feller bereits die mündliche Nachprüfung an. Konzentriert, ohne äußere Zeichen von Nervosität, aber eskortiert von einer ganzen Mannschaft an Beamten betritt die neue Schulministerin pünktlich die Fraktionsebene des Düsseldorfer Landtags.
Feller soll das erklären, was der AfD-Bildungspolitiker Carlo Clemens später „historisches Versagen“ nennen wird - und damit ausnahmsweise auch die Gefühlslage in anderen Parteien trifft.
Beim Download der Aufgaben für das Zentralabitur war es am Dienstag erstmals in NRW zu einer massiven Panne gekommen. 600 Schulen konnten die Dokumente für die Klausuren in den Fächern Biologie, Chemie, Ernährungslehre, Informatik, Physik und Technik nicht herunterladen.
Nach hektischen Stunden der Ungewissheit, nach unzähligen Nachfragen und allerlei Chatgruppen-Gerüchten erfuhren die Lehrkräfte erst abends gegen 21 Uhr, dass sie ihre Klausuren am nächsten Morgen abblasen müssen. Im Stil einer amtlichen Bekanntmachung ließ Feller lapidar verkünden: „Die technische Störung konnte im Laufe des heutigen Tages nicht mehr rechtzeitig behoben werden, sodass die für Mittwoch vorgesehenen schriftlichen Abiturprüfungen auf den bisher prüfungsfreien kommenden Freitag, 21. April 2023, verschoben werden müssen.“
Ministerin beteuert: "Wir sind nicht abgetaucht"
Seither steht die NRW-Bildungslandschaft zum ersten Mal seit den berüchtigten „Schulmails“ während der Corona-Pandemie wieder Kopf. Feller versucht am Freitag vor den Ausschussmitgliedern, mit einer Mischung aus Demutsgeste, technischer Erklärung und Rekonstruktion des Chaos-Dienstag den politischen Druck zu lindern.
Vergleichsweise leicht fällt es der CDU-Politikerin noch, die Unvorhersehbarkeit der technischen Störung zu erklären. Seit 2018 arbeitet das Land mit dem IT-Dienstleister Gonicus aus Arnsberg zusammen. Nach den Sicherheitsstandards der Kultusministerkonferenz sorgt die Firma dafür, dass alle betroffenen Schulen in NRW jeweils am Vortag diverser Prüfungen entsprechende Aufgabensets erhalten.
52 Downloads pro Jahr seien stets problemlos gelaufen. Sogar der bei diesem Abi etwas komplexere Datenabruf mit einem Chemie-Prüfungsvideo und einer sogenannten Zwei-Faktor-Authentifizierung soll im Probebetrieb unbeanstandet geblieben sein. Was niemand ahnte: Nach einem Update der Server im Mai 2022 sei das System „in nicht optimaler Dimensionierung“ neu aufgestellt worden, wie Feller erklärt. Die Folge: Beim gleichzeitigen Zugriff zahlreicher Schulen brach es zusammen.
Schwerwiegender ist der Vorwurf schlechter Krisenkommunikation. Die Ministerin widerspricht zwar dem Eindruck vieler Lehrerzimmer und Elternhäuser, am Dienstag habe sich das Ministerium über Stunden einfach totgestellt. „Wir waren nicht abgetaucht“, beteuert sie. Nach ersten Hinweisen auf technische Probleme habe man zunächst auf Versprechungen des IT-Dienstleisters vertraut, die Sache in den Griff zu bekommen. Parallel habe man versucht, die Klausuraufgaben auf einem hauseigenen Server hochzuladen. Das klappte am Ende auch nicht, blöderweise war da schon eine Mail mit einem Download-Link an die Schulen versendet worden. Konsequenz: Auch der Server des Schulministeriums ging in die Knie.
Abitur sollte stattfinden: "Das war unser hehres Ziel"
„Im Laufe des Nachmittages ist das Problem immer größer geworden“, berichtet Feller und schildert einen Abwägungsprozess des Vertröstens: „Wir haben uns entschieden, dass wir alles daransetzen wollen, dass das Abitur am nächsten Tag stattfindet. Das war unser hehres Ziel.“ Sie räumt ein, dass die Medien, der Landtag und vor allem Schulen und Eltern besser hätten informiert werden müssen.
Für die schwarz-grüne Landesregierung ist das Debakel misslich, weil Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) mit Fellers Berufung vor allem ein Ziel verfolgt: Das wahlentscheidende Thema Schule soll von der ehemaligen Regierungspräsidentin möglichst aus den Schlagzeilen gehalten werden. Die nüchterne Juristin aus Münster soll das schwierige Ressort durch solides Management ruhigstellen. Bis zur Technik-Panne ging das Kalkül - trotz Lehrermangels und miserabler NRW-Ergebnisse in Bildungsrankings - einigermaßen auf.
Wie blank die Nerven nun zu liegen scheinen, offenbart am Freitag ein gönnerhafter Auftritt von Fellers Staatssekretärs Urban Mauer (CDU). „Wir sind nicht hierhergekommen, um uns zu rechtfertigen, sondern um Ihnen die Motive darzustellen, die unser Handeln erklären“, belehrt er die Parlamentarier patzig. Und: „Es ist Ihr gutes Recht, sehr geehrte Abgeordnete aus der Opposition, eine andere Bewertung zu nehmen, die auch in der Wortwahl kraftvoll ausfällt.“ Das will sich SPD-Mann Jochen Ott, selbst Oberstudienrat, nicht bieten lassen und erklärt dem Regierungsbeamten die Gewaltenteilung, Politikkurs Klasse fünf: „Sie haben sich zu rechtfertigen vor dem Volk.“