Essen. Der Entlastungstarifvertrag für die Unikliniken in NRW ist in Kraft getreten – er gilt nicht für alle. Schon jetzt gibt es Kritik. Die Infos.
Nach einem elfwöchigen erbitterten Streik werden Beschäftigte der sechs nordrhein-westfälischen Universitätskliniken künftig durch den neuen Tarifvertrag Entlastung (TV-E) unterstützt. Für viele Beschäftigte führt der TV-E, der am 1. Januar in Kraft getreten ist, zu „besseren Arbeitsbedingungen und spürbaren Entlastungen“, sagt NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) auf Anfrage dieser Redaktion. „Das ist eine gute Nachricht nicht nur für das Personal an den Universitätskliniken, sondern auch für die Patientinnen und Patienten“, so Laumann.
Nicht zuletzt wegen Wirtschaftlichkeit und Kostendruck sei das System in den vergangenen Jahren in Schieflage geraten. Jetzt brauche es schnell bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung für alle, die in der Pflege arbeiten, ergänzt Laumann. Die Gewerkschaft Verdi beschreibt den neuen Tarifvertrag als ein „Leuchtturmprojekt“ für andere Krankenhäuser in der Region. Ein Überblick.
Was ist der Hintergrund?
Grundlage für den TV-E ist ein Mitte Juli von Verdi und den Klinikleitungen ausgehandeltes Eckpunktepapier, das spürbare Verbesserungen der Arbeitsbedingungen wie etwa einen angemessenen Freizeitausgleich garantieren soll. Zuvor wurde an den Klinik-Standorten Aachen, Bonn, Köln, Düsseldorf, Essen und Münster elf Wochen lang nahezu dauerhaft gestreikt. Insgesamt mussten 10.000 Operationen verschoben werden – bis die Kliniken einlenkten.
Anfang August begannen schließlich die Verhandlungen zur Ausgestaltung der Vertragsdetails. Mit der Unterzeichnung kurz vor Weihnachten ist einer der längsten Arbeitskämpfe an Krankenhäusern zu Ende gegangen. Nach einer Mitgliederbefragung von Verdi gab es zum Vertrag eine hohe Zustimmungsquote unter den Beschäftigten. Vorerst hat der TV-E eine Laufzeit von fünf Jahren.
Wie soll der Tarifvertrag für Entlastung sorgen?
Kernpunkte sind verschiedene Modelle, die die Beschäftigungsgruppen im Klinikalltag entlasten sollen. Für weite Teile des Fach- und Pflegepersonals sowie Mitarbeitende auf psychiatrischen Stationen und der Notaufnahme sollen bessere Personalschlüssel festgelegt und „schichtgenaue“ Belastungsmessungen durchgeführt werden.
„Wenn Mitarbeitende beispielsweise nachts alleine auf zwei Stationen eingesetzt sind oder fachfremd auf anderen Stationen aushelfen, soll es dafür Belastungspunkte geben“, erklärt Uwe Meyeringh, Gesundheits-Experte von Verdi in NRW. Für jeweils sieben Belastungssituationen erhalten die Mitarbeitenden zum Ausgleich einen freien Tag. Im ersten Umsetzungsjahr kann es bis zu elf Entlastungstage geben, im zweiten 14 und im dritten Jahr maximal 18 Tage.
Zielsetzung ist aber nicht, so Meyeringh, „beim Löcherstopfen wieder neue zu reißen“. Denn jeder, der einen Tag fehlt, lasse wieder Arbeit auf der Station zurück. „Durch die Entlastungstage wollen wir vor allem Druck ausüben, damit weiteres Personal eingestellt wird“, sagt Meyeringh. Für die Bereiche Service, IT und Technik wurde der Aufbau von 30 Vollzeitstellen pro Uniklinik vereinbart. Diese vereinbarten konkreten Modelle sollen jedoch erst im zweiten Halbjahr 2024 greifen.
Warum greifen die Maßnahmen erst so spät?
Da die Belastungssituation der Beschäftigten automatisch über ein IT-System gemessen werden soll, braucht es laut Verdi für den nötigen Technik-Aufbau 18 Monate Zeit. So gibt es 2023 maximal fünf Pauschalentlastungstage, im ersten Halbjahr 2024 sind es drei. Jeweils ein Tag soll durch Geld ausgeglichen werden. Die zusätzlichen finanziellen Mittel stellt laut Vertrag das Land zur Verfügung.
Gibt es bereits Kritik?
Die vdla-Gewerkschaft zum Beispiel hat sich laut Dirk Wildschütz, stellvertretender Vorsitzender in NRW, nicht am Streik beteiligt. Die Proteste seien allein von Verdi gekommen. Der TV-E sei „der falsche Weg“, da nicht alle Beschäftigten in den Unikliniken mitbedacht worden seien. „Wir wünschen uns einen Flächentarif, von dem alle Mitarbeitende profitieren“, betont Wildschütz. Im TV-E sehe er ein gutes Ergebnis, vor allem für diejenigen, die sich zuvor am Streik beteiligten, längst aber nicht für alle Mitarbeitende.
Viele Beschäftige aus der Verwaltung oder Forschende am Klinikum seien beispielsweise nicht mitberücksichtigt worden. „Das treibt einen Keil in die Belegschaft“, vermutet Wildschütz, „denn diese Menschen sind ebenfalls belastet.“ Die Gewerkschaft, die den Tarifvertrag mit unterschrieb, werde die Entwicklung deshalb weiter beobachten und sich in die Gespräche einbringen.
Was bedeutet der TV-E für die Krankenhauslandschaft?
Längst hat der Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begonnen. „Mit der sukzessiven Umsetzung des Tarifvertrags Entlastung in den kommenden 18 Monaten wird das Universitätsklinikum Essen die bestmöglichen Arbeitsbedingungen für Pflegefachpersonen anbieten, die es in Deutschland zurzeit geben kann“, heißt es von Seiten des Universitätsklinikums.
Mit der langfristig angelegten Kampagne „Ja ich will“, soll hauptsächlich über digitale, aber auch klassische Kanäle neues Personal angeworben werden. Mindestens ebenso wichtig sei es aber auch, das vorhandene Personal zu halten, so ein Sprecher.