Dortmund/Duisburg. Studienabbrecher sind ein Gewinn für viele Ausbildungsbetriebe. Viele junge Menschen tun sich schwer bei der Wahl ihres Karriereweges.

Ihre Liebe zum Handwerk entdeckt Lucia Siebold schon früh, mit der Restaurierung ihres Elternhauses, ein 200 Jahre altes Fachwerkhaus in Bottrop, in dem sie aufwächst. Nähen, Werken, Töpfern: „Alles interessierte mich, ich habe schon immer viel herumgebastelt“, sagt die 22-Jährige. Die logische Folge ist für sie ein Architekturstudium. Doch nach zwei Semestern bricht sie das Studium mitten in der Corona-Pandemie ab – und entscheidet sich für eine Ausbildung zur Tischlerin im Duisburger Ausbildungsbetrieb Gerber.

So wie Siebold geht es vielen Studierenden. Laut einer Studie vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) brechen deutschlandweit jährlich rund 30 Prozent der Studierenden im Bachelor ihr Studium ab. 42 Prozent der Abbrecherinnen und Abbrecher eines Jahrgangs beginnen innerhalb eines halben Jahres nach Abbruch eine Berufsausbildung. Angesichts des hohen Fachkräftemangels in Nordrhein-Westfalen sind diese Menschen „ein Gewinn für Unternehmen“, sagt Wolfgang Trefzger von der Industrie- und Handelskammer (IHK) in NRW.

Studiert, „weil man es so macht“

Der Trend zum Abitur und einem anschließenden Studium sei in den letzten Jahrzehnten immer weiter gestiegen. Die Folge: Seit 2020 können in NRW mehr als 10.000 Lehrstellen pro Jahr nicht besetzt werden, 2021 waren es landesweit 11.400. In diesem Jahr droht ein dritter Negativrekord in Folge, im März waren noch knapp 60.000 Plätze offen – 8000 mehr als im Jahr zuvor.

„Wir müssen die Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung in der Gesellschaft weiter forcieren“, betont Trefzger. Vielen Schülerinnen und Schülern, als auch Eltern und Lehrkräften seien die anschließenden Karrieremöglichkeiten nach einer dualen Ausbildung gar nicht bewusst. Ein Ansatzpunkt seien daher Azubis, die als Botschafter ihre Berufe in Schulen vorstellen. „Sie ermöglichen direkte Einblicke in Ausbildungsberufe und geben Informationen über die Berufsausbildung, die Vielfalt der Berufe und über Karrieremöglichkeiten“, sagt Trefzger.

Interessen und Talente finden

So könnten gerade auch Schülerinnen und Schüler erreicht werden, die noch zweifeln. Wichtig sei außerdem, dass Eltern ihre Kinder bei der Berufsorientierung darin unterstützten, „wo Kinder ihre Interessen und Talente haben“. Denn oft beeinflussten die Erwartungen von Außen den Karriereweg ihrer Schützlinge. Trefzger: „Und wenn sich das Kind dann später umentscheidet, lernen auch viele Eltern, dass ein Studienabbruch kein Scheitern, sondern ein Weiterkommen sein kann.“

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Lucia Siebold fällt der Studienabbruch anfangs nicht leicht. Ihre Eltern, beide Akademiker, fragen sie gleich zweimal, ob sie sich das denn auch gut überlegt habe. „Heute sehen sie, wie glücklich und erfolgreich mich dieser Weg macht und unterstützen mich in allem“, erzählt die junge Frau. Für sie selbst, sagt Siebold, habe das Arbeiten zu Hause vor dem Rechner „nicht gut funktioniert“. Die Gruppen in den Online-Vorlesungen sind ihr zu groß, die Arbeit vor dem Computer zu theoretisch. Zudem erfordere ein Studium viel Selbstorganisation.

Meisterprüfung plus Hochschulabschluss

An der Ausbildung schätzt sie die geregelten Abläufe. „Außerdem lerne ich hier im Betrieb von Handwerkern, die schon jahrelange Berufserfahrung haben“, sagt Siebold. So ganz hat sie das Studium allerdings nicht an den Nagel gehängt. Über eine Infoveranstaltung der Handwerkskammer wird Siebold auf den Fernstudiengang „Produktdesign“ (Craft Design) an der Diploma Hochschule Bad Sooden-Allendorf aufmerksam. Am Ende dieses „trialen Studiums“ hat sie Gesellenbrief, Meisterprüfung und Hochschulabschluss in der Tasche. Für Siebold „absolut die richtige Wahl.“

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Nachdem Jonas Hoppe sein Abi gemacht und anschließend einen Bundesfreiwilligendienst absolviert hat, steht für den heute 26-Jährigen fest: Er wird studieren, „weil man das eben so macht“. Er schreibt gute Noten. Sein Vater studierte ebenfalls. Im Wintersemester 2015/2016 beginnt er in Dortmund ein Lehramtsstudium in Mathe und Englisch, wechselt nach einiger Zeit von Mathe zur Philosophie. Doch schon nach drei Semestern merkt Hoppe, dass er „auf der Stelle“ tritt.

„Ich habe Hausarbeiten aufgeschoben und hatte keine Lust mehr, Texte zu lesen.“ Bei einem Service für Studienzweifler der IHK-Dortmund sucht er gemeinsam mit einer Fachkraft nach Alternativen. „Ich habe schon immer gerne an Computern rumgebastelt“, sagt Hoppe, der im August eine Ausbildung zum Kaufmann für IT-Systeme bei der Firma bitpiloten in Dortmund begonnen hat. „Es war schön und erleichternd zu sehen, welche Alternativen es zum Studium gibt.“ Durch den Wechsel in die Ausbildung sei bei ihm ein „Knoten geplatzt“, erinnert sich Hoppe, „ich war nicht mehr im Dauer-Studieren gefangen.“

Kampf mit Versagensängsten

Am Anfang kämpft der Azubi jedoch mit Versagensängsten, das langjährige Studium abgebrochen zu haben. „Dann habe ich gemerkt, dass viele junge Menschen in der Firma und in der Berufsschule einen ähnlichen Weg gegangen sind, das hat mir die Angst genommen.“ Außerdem helfe ihm das vorherige Studium heute an vielen Stellen in der Ausbildung. Texte schreibt er locker auf Englisch, vor Kunden kann er gut sprechen. Damit ist für Hoppe klar: „Das Studium war keine verschwendete Zeit.“